Anfänglich vermutete man noch, die Corona-Krise sei zugleich eine Vertrauenskrise. Da man nicht sehen kann, wer infiziert ist und wer nicht, wusste man auch nicht, neben wen man sich in der Straßenbahn setzt oder an wem man auf der Straße vorbeiläuft. Das Vertrauen darauf, dass schon nichts passieren wird, wenn alles so läuft wie immer, war nicht mehr belastbar. In diesem Sinne konnte man seinen Mitmenschen nicht vertrauen, keine Gefahren darzustellen. Sie waren, und sind es noch, daher besser zu vermeiden. Eine solche Vermeidung ist oft das Resultat von Misstrauen und lässt sich mit der Haltung des Lieber-Nicht beschreiben: lieber keinen Kontakt, wenn er nicht nötig ist; lieber keine Interaktion, wenn sie vermieden werden kann; lieber keine Verwicklung, man weiß nicht, ob sie nicht tödlich enden kann.
Normalerweise erschwert eine solche Haltung das Zusammenleben, fördert Vereinzelung und erodiert Staatsbürgerschaft. Aber was ist in Zeiten von Corona schon normal? In dieser krisenhaften Situation schützt das Misstrauen gegen die potenziellen Virenträger in der Straßenbahn vor Ansteckung – und damit vor der Verbreitung des Erregers. Auch sich selbst ist zu misstrauen, schließlich ist die eigene Infektion nie vollständig auszuschließen. Daher besser eine Maske tragen. Misstrauen kommt eine fast staatstragende, mindestens aber gesundheitsförderliche Funktion zu.
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