Eiskalter Anstand

von Natascha Strobl

Der ÖVP geht es nicht nur darum, der Menschenfeindlichkeit freien Lauf zu lassen, sondern sie versucht, sie zu rationalisieren, um sich zu legitimieren.

Nicht einmal 100 Kinder will die ÖVP aus Moria aufnehmen. Längst geht es nicht mehr darum, allen Menschen in Moria zu helfen, sie menschenwürdig zu behandeln, ihnen Rechte und Träume zuzugestehen. Nein, wir sprechen über 100 Kinder. Unbegleitete Kinder. Weil Kinder, die mit Familien da sind, verdienen unsere Hilfe schon nicht mehr. Das stellt nicht nur einen Erfolg der Rechten dar, es kratzt dermaßen an einem zivilisatorischen Mindestmaß, dass alle an dieser Debatte Beteiligten unangenehm berührt sein sollten. Sie sind es aber nicht.

Die ÖVP hat eine Diskursspirale nach unten in Gang gesetzt. Sollte sie in ein paar Tagen oder Wochen doch bereit sein, 100 oder 50 oder nur zwei unbegleitete Kinder aufzunehmen, wird sich die linksliberale Öffentlichkeit artig bedanken, als wäre es ein Kompromiss. Werden 100 (oder 50 oder zwei) Kinder aus Moria aufgenommen, dann wird das als Erfolg für die Grünen in der Regierung verbucht werden. Was für ein Erfolg … Der Fehler ist, sich überhaupt auf diese leidige Prämisse einzulassen. Als sei es legitim zu sagen, wir überlassen Familien, Schwangere, Erwachsene jeden Alters ihrem Elend und wollen nichts tun. So werden Menschenrechte zur Verhandlungssache. 

»DIE BERECHNENDE BÜROKRATIE VERBINDET SICH MIT BÜRGERLICHER MANIERLICHKEIT. ANSTAND UND EMPATHIE WERDEN INS GEGENTEIL VERKEHRT, GRAUSAMKEIT UND KÄLTE ZUM MASS ALLER DINGE.«

Im Gegensatz zur traditionellen extremen Rechten serviert uns die ÖVP die politische Grausamkeit nicht mit einpeitschendem Geifer, sondern kühl und rational. Grausamkeit ist keine Frage der Emotionen mehr, keine Kanalisierung der eigenen Wut und Ohnmacht. Politische Grausamkeit wird bei der ÖVP zu einer Frage der Vernunft: Es ist vernünftig, Menschen leiden zu lassen, abzuwarten und zuzuschauen, wie sich die Not jeden Tag verschlimmert. Außenminister Schallenberg hat diese Haltung in seinem Interview in der ZIB 2 Anfang September perfekt vorgetragen. Man könne eben nicht immer springen, bloß weil irgendwo ein paar Kinder leiden oder ein Boot sinkt. 

Die berechnende Bürokratie verbindet sich mit bürgerlicher Manierlichkeit. Anstand und Empathie werden ins Gegenteil verkehrt, Grausamkeit und Kälte zum Maß aller Dinge. Die Sozialwissenschaft kennt dafür den Begriff der »rohen Bürgerlichkeit«. »Rohe Bürgerlichkeit«, so der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, »ergibt sich aus dem Zusammenspiel von glatter Stilfassade, vornehm rabiater Rhetorik sowie autoritären, aggressiven Einstellungen und Haltungen. Sie findet ihren Ausdruck in einem Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen und der rigorosen Verteidigung beziehungsweise Einforderung eigener Etabliertenvorrechte im Duktus der Überlegenheit.«

Der ÖVP geht es nicht nur darum, der Menschenfeindlichkeit freien Lauf zu lassen, sondern sie versucht, sie zu rationalisieren, um sich zu legitimieren. Nicht nur gegenüber sich selbst, sondern gegenüber der gesamten Gesellschaft. Dahinter steht eine antidemokratische und autoritäre Haltung, die Menschen in der Hierarchie nach unten oder oben stuft. Am unteren Ende stehen die Flüchtlinge in Moria, weil sie eine Doppelfunktion erfüllen. Sie können nicht wählen und bringen somit dem Wahlprojekt der ÖVP rein gar nichts. Gleichzeitig eignen sie sich als Feindbild, das eine extrem rechte bürgerliche Partei wie die ÖVP braucht. Fremde Elendsgestalten haben sich immer schon als Sündenböcke geeignet. 

Somit lässt sich der ÖVP eine Nähe zur Neuen Rechten unterstellen, die eine Änderung des gesellschaftlichen Konsenses zum Ziel hat. Darum geht es auch der ÖVP unter Sebastian Kurz. Sie ist kein bloßer Wahlverein, der sich nach Umfragen richtet, sondern ein politisches Projekt, das die Gesellschaft autoritärer, härter und grausamer machen möchte. Und dabei anständig aussehen will.

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