Nichts als Ächtung

von Samuel Stuhlpfarrer

Editorial TAGEBUCH 10/2020

In eine neue Dimension politischer Logik wagten sich unlängst die österreichischen Grünen vor. Um zu verhindern, dass der Koalitionspartner ÖVP gemeinsam mit den Freiheitlichen einen Antrag beschließt, der die Aufnahme von unbegleiteten Kindern aus Moria verhindert, sahen sich die Grünen-Abgeordneten Mitte September dazu gezwungen, im österreichischen Nationalrat einem Antrag von SPÖ und Neos die Zustimmung zu verweigern, der eine Aufnahme ebensolcher Kinder vorgesehen hätte. Das mag verstehen, wer will.

Das parlamentarische Ränkespiel offenbarte jedenfalls dreierlei: Erstens, allem Anschein nach nehmen die Grünen nicht bloß ihre Wählerinnen und Wähler, sondern auch sich selbst kaum mehr ernst. Zweitens, als Koalitionspartnerin ist die Partei beliebig austauschbar, im Fall des Falles steht die FPÖ parat. Der Beliebigkeit (in Taten, also konkretem Abstimmungsverhalten, nicht in Worten, die kaum Gewicht haben) bleibt damit auch jede einzelne inhaltliche Frage ausgesetzt. Drittens schließlich, haben die vergangenen Tage einmal mehr in Erinnerung gerufen, wer innerhalb dieser Bundesregierung den Ton angibt – eine ÖVP, deren Agenda mittlerweile in weiten Teilen an die der Neuen Rechten erinnert, wie Natascha Strobl in ihrem Beitrag auf Seite 8 schreibt. 

Überraschend kommt die »harte Linie« der ÖVP ohnehin nicht, am allerwenigsten für die Grünen selbst. Ihr Schicksal ist sorgsam gewählt, ihre Rolle in der Regierung inhaltlich und prozedural festgelegt in einem Koalitionsvertrag, den der Bundeskongress der Partei mit breiter Mehrheit abgesegnet hat. Die Grünen haben sich freiwillig zur Mehrheitsbeschafferin eines rechts-autoritären Projekts degradiert. 

Wer das Agens der ÖVP in der Frage der Aufnahme von Geflüchteten aus Moria verstehen will, dem sei der Kommentar von Florian Wenninger im Rahmen unserer Kontroversen ans Herz gelegt. »Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechtes«, schreibt der Zeithistoriker auf Seite 6, »stehen Gruppierungen, die ökonomisch Eliteninteressen vertreten, vor einem Dilemma. Sie müssen Menschen für sich gewinnen, denen sie materiell nichts anzubieten haben. Wer hier auf Ehrlichkeit setzt, kommt schwerlich über das Niveau der Neos hinaus. Daher ist die Versuchung groß, Frust und Aufmerksamkeit zu kanalisieren, indem man sich gegen Minderheiten wendet.« 

Eine gleichermaßen bizarre wie gefährliche Variante dieser Methode hat Donald Trump in den vier Jahren seiner ersten Amtszeit kultiviert. Anfang November stellt er sich der Wiederwahl. Vom Tag seines Amtsantritts an, dem 19. Jänner 2017, führt der Schweizer Schriftsteller Robert Cohen darüber Tagebuch. Erst letztes Jahr erschienen die Aufzeichnungen über die ersten beiden Jahre seiner Präsidentschaft unter dem Titel Abwendbarer Abstieg der Vereinigten Staaten unter Donald Trump im Wallstein-Verlag. Cohens jüngste Einträge aus dem New Yorker Tagebuch lesen Sie zu unserer Freude ab Seite 21. Die generelle Ausgangslage vor dem Urnengang am 3. November beleuchtet unterdessen Tyma Kraitt in unserer Titelgeschichte (Seite 16). 

Zurück zu Florian Wenningers oben erwähntem Kommentar. Der beschäftigt sich eigentlich mit der Kampagne der ÖVP gegen einen »importierten Antisemitismus«. Wir erinnern uns: Nach den Attacken eines Syrers auf die Grazer Synagoge und den Präsidenten der örtlichen Kultusgemeinde, kündigten Innenminister, »Integrationsministerin« und Kanzler Ende August Maßnahmen gegen antisemitische Tendenzen unter Geflüchteten an. Auch diese Haltung kennt man von der FPÖ. 

Wer den »Kampf gegen Antisemitismus (…) zum Kampf gegen Zugewanderte und vice versa« (Wenninger) umdeutet, wer also die Erinnerung an den Holocaust für die eigene xenophobe Agenda funktionalisiert, dem sollte in einem demokratischen Staat nichts als Ächtung zuteilwerden. Der Kampf gegen den Antisemitismus ist zu wichtig, um ihn (immerhin für diese Klärung gilt es, Kurz, Raab und Nehammer zu danken) mit der ÖVP zu führen.

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