Es müssen nicht gleich Kinder essende Eliten sein. Die Idee, wonach UNICEF die Mächtigen der Welt mit frischem Jungmenschenfleisch und revitalisierendem Kinderblut versorgt, mag keine Mehrheit unter jenen finden, die sich auf Demos und Kundgebungen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen zusammenkommen. Eine Einzelmeinung ist es aber auch nicht. Aufnahmen der Proteste und dort geführter Interviews legen nahe, dass Verschwörungsmythen unterschiedlichster Art die Motivation eines großen Teils der Mobilisierten ausmachen. Offenbar vollzieht sich in Deutschland und Österreich gerade ein Prozess, der in den USA schon weiter fortgeschritten ist. Verschwörungsideologien, die seit langem im digitalen Raum zirkulieren, durchbrechen die vermeintliche Barriere zwischen online und offline und werden auf der Straße und im politischen Betrieb wirkmächtig. In Berlin hatten sich zuletzt mehrere AfD-Funktionsträger und -Abgeordnete an der Demonstration beteiligt, die in einem versuchten Sturm auf das Parlamentsgebäude gipfelte. In Wien sammelt Heinz-Christian Strache, dem zwar Partei, Ehefrau und gesunde Gesichtsfarbe abhandengekommen sind, nicht aber der politische Gosseninstinkt, für seine Liste Kandidatinnen und Kandidaten ein, die sich gegen Bill Gates und die »Corona-Lüge« einsetzen. Währenddessen hat die Erzählung von den Kinderblut trinkenden Eliten in den USA die höchsten Ebenen erreicht: Präsident Trump verweigert die Distanzierung von der QAnon-Bewegung, die ihn als Messias im Kampf gegen eine globale Kindermörder-Verschwörung auserkoren hat. Nicht weniger als 79 aktuelle oder frühere Kandidatinnen und Kandidaten zur Kongresswahl, 74 davon auf republikanischem Ticket, unterstützen QAnon.
»VERSCHWÖRUNGS-MYTHEN SIND RADIKAL ANTI-THEORETISCH UND IM SCHLECHTESTEN SINNE KONKRET.«