Schiwe sitzen – nicht so koscher

von Eva Geber

Foto: Isolde Ohlbaum/ LAIF

Wie soll Versöhnung möglich sein, wenn vieles noch nicht einmal angesprochen wurde? Zum Tod von Ruth Klüger, die am 6. Oktober in Kalifornien verstorben ist.


1801 wörter
~8 minuten

Ruth Klüger ist tot. Obwohl ich schon seit Monaten darauf vorbereitet hätte sein müssen, komme ich damit nicht zurecht. Aber von ihr reden, das kann ich. Von dem, was sie für alle war – für alle, die ihre Bücher lasen, ihre Vorträge hörten oder sie als Lehrerin erlebten –, und von dem, was sie mir war. Ich spreche mit den Freundinnen, mit dem Freund, mit dem Sohn, der ihr oft geschrieben hat. Vor allem aber mit ihr: Was sagst Du zum Wahlergebnis in Wien? Wie gut, dass Trump Corona hat. Wie schade, dass er es nicht stärker hatte. Ich lese soeben Alice Munro, das Buch ist von 2004. Du wolltest sie damals rezensieren, hast Du? Wir müssen Schiwe sitzen. Rund um meinen Tisch, wo sich die Freundesrunde um Dich herum versammelt hat. Das hätte in den ersten sieben Tagen nach meinem Tod sein sollen, sagst Du. Dann ist es eben nicht so koscher. Aber Dein Platz ist leer. Du fehlst mir. 

Anfang 1993 las ich Ruth Klügers Buch weiter leben. Eine Jugend und war fasziniert. Literatur über die Shoa, die uns herausfordert, tiefer, differenzierter hinzusehen, neue Fragen zu stellen, unsere Einschätzungen zu prüfen. Ruth Klüger rührt an Tabus, misstraut dem Pathos von Gedächtnisstätten, bei dem sie Verkitschung wittert. Mit Pathos lässt sich gut lügen. Unsentimental und lakonisch stellt sich Ruth Klüger den Erinnerungen, die nicht verdrängt werden sollen. Besonders schlecht ist sie auf Mitleid zu sprechen. Es entschärft, beschwichtigt, entlastet: »Ja, wir hätten’s gern verständlicher, tröstlicher.« Das ist es aber nicht. »Einfach zu sagen, was ist, das genügt.« Dementsprechend ist das Wort »unsagbar«, das im Zusammenhang mit den Nazi-Gräueln reichlich verwendet wird, gedankenlos oder heuchlerisch: »Wieso, es ist doch sagbar«, und es wird ja auch gesagt. Ruth Klüger selbst geht sparsam mit Einzelheiten der Gräuel um. »In Birkenau bin ich Appell gestanden und hab Durst und Todesangst gehabt. Das war alles, das war es schon.« Das sind keine großen Worte. Sie bleiben dennoch im Halse stecken. Mit diesem Buch sehen wir Ruth Klüger im Kanon der Holocaust-Literatur neben Primo Levi, Imre Kertész, Cordelia Edvardson, Jean Améry.

Schonungslos, auch gegen sich selbst, wie wir insbesondere in ihrem zweiten autobiografischen Buch unterwegs verloren lesen können, stellt sich Ruth Klüger komplexer Betrachtung, immer gepaart mit dem Abwägen der Sichtweisen, offen für Auseinandersetzung und Dialog. Die »Gespenster« der »unerlösten Vergangenheit« bilden den Hintergrund. Neben großem Lob für das Buch wird ihr »Überempfindlichkeit« (FAZ) vorgeworfen, »unversöhnt« (Profil) sei sie zudem. Gegenüber den Zumutungen und Perversitäten, die auch das Leben nach der Shoa bereithält – insbesondere einer Frau und Jüdin gegenüber – möchte man Ruth Klüger einen Panzer wünschen. Und wir können lernen von diesem kritischen Blick. War doch nicht bös’ gemeint? Wie oft steht Sexismus oder Antisemitismus dahinter? Und wieso wird von ihr Versöhnung erwartet? Ruth Klüger hat nicht die vier Jahre Volksschule besuchen können, nicht die acht Jahre Gymnasium, nicht ihren Wissensdurst an der Universität in Wien stillen können. Mit ihrer Mutter wurde sie nach Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt deportiert. Vom Todesmarsch flüchteten sie, da haben sie »alles gewonnen: das Leben«.

Wie soll Versöhnung möglich sein, wenn vieles noch nicht einmal angesprochen wurde? Davon spricht sie in ihrer Rede am 5. Mai 2011 im Parlament: »Ich rede jetzt einmal ausdrücklich nicht von Juden oder Zigeunern, sondern von Opfern, die in die unerhörte Kategorie ›unnütze Esser‹ eingestuft wurden« und dem Euthanasie-Programm zum Opfer fielen. Damit bietet sie weder Entlastung noch angenehmes Wohlfühlen darüber, hier einer Zeitzeugin großzügig die Bühne des schönen Reichsratsaals überlassen zu haben. Jenen, deren Schicksal kaum der Rede wert war, gilt ihr Blick. Und so spendet sie das Geld für ihren ersten Preis, den von Rauris, der Roma-Forschung in Berlin und den Theodor Kramer Preis 2011 Ute Bocks Flüchtlingshilfe in Wien.

Nach weiter leben und vor unterwegs verloren erscheint eine Reihe bedeutender Essaybände. In Frauen lesen anders legt Klüger die Geringschätzung gegenüber Frauen bloß, die sich auch in großer Literatur befindet. In gut gemeinten Texten werden Klischees bedient – wohlwollende Überlegenheit Frauen gegenüber eingeschlossen. Und sie zieht ihre Schlüsse mit erfrischendem Humor. Ein Beispiel: »Nur Fahrpläne und Zugverbindungen sind androgyn.« 

In Katastrophen. Über deutsche Literatur spießt sie Antisemitismus auf und stößt als unantastbar geltende Autoren vom Podest, unter anderem Thomas Mann. Solche Lästerung verursacht Aufruhr. Akribisch analysiert sie, wie hinter »Wiedergutmachungsphantasien« der Versuch steht, das Ausmaß der Judenvernichtung »sentimental zu verzerren und sie dadurch aufs Erträglichste zu reduzieren«. Die Treffsicherheit und Genauigkeit gilt auch für die Essaysammlung Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur

Ausdrücklich geht es Ruth Klüger nicht darum, die Werke beiseite zu schieben, das würde uns zu vieler Literatur berauben. Sie fordert lediglich eine politische Art, Bücher zu lesen. Das gilt ebenso für ihre Gedichtinterpretationen in Gemalte Fensterscheiben, mit denen sie uns mitnimmt in ihr Lesevergnügen und unser Verständnis erweitert. Manche Rezeption nimmt sie aufs Korn: wie »die Verehrung der Moral von Versen«. Moral »ist kein Kriterium für Dichtkunst«, bescheidet sie kühl. In einer der Wiener Vorlesungen zum Wert von Lyrik erklärt sie: »Gedichte sind haltbar, mehr als Prosa, man muss sich mit ihnen einzeln anfreunden, wie mit Menschen.« Gedichte begleiten, erhellen den Tag. Diese Wortlust, die ich mit Ruth erlebe, wenn sie in Wien bei mir wohnt oder wenn ich sie in Kalifornien besuche. Oder wenn sie mir alltägliche Begebenheiten in Versen mailt, die ich, so gut ich kann, erwidere. 

Ihre eigenen Gedichte hat Klüger dem Titel Zerreißproben mit einem Tabubruch herausgegeben: Sie hat sie nämlich selbst interpretiert. Obwohl das eigentlich nicht ganz stimmt: Behutsam hat sie manchmal den Ursprung erklärt, oder was dahintersteht. Und wieder ermahnt sie, es müsse die Empfindung immer noch »dem Verstand und dem kritischen Denken gegenüber offen bleiben«. 

Zerreißproben

Erde behütet und Erde beschwert,

Wasser ertränkt, Wasserstoff nährt,

Luft ist das Nichts und ein All.

Schwankend zwischen den Gegensätzen

lernten wir die haltlosen Frühlinge schätzen –

Ewigen Sommer gab’s nur vor dem Fall.

Die zwei Waagschalen Pech oder Glück

kontrolliert weiß Gott welche Hand.

Noahs Taube kam nie zurück,

denn sie fand kein trockenes Land. –

Das Zeug aus dem die Träume sind,

hält eher stand.

So oft wie möglich würdigt Ruth Klüger die Werke von Frauen. Beim Roswitha von Gandersheim-Preis erfahren wir, dass es vor etwa 1000 Jahren eine Frau gegeben hat, »die sowohl gelehrt wie witzig, sowohl christlich wie unterhaltsam schreiben konnte«. Zum Käthe Leichter-Preis dankt sie, dass er einer Vorgängerin gewidmet ist, »mit der man sich gerne verwandt fühlt«. Und sie widmet die Eröffnungsrede zum Ingeborg Bachmann-Preis: Ingeborg Bachmann. In der Tat war bisher keine der Eröffnungsreden der Namenspatronin des Preises gewidmet gewesen. 

Ihre Buchbesprechungen gelten fast ausschließlich Autorinnen, und auch nur Büchern, die sie empfehlen kann. »Ich will doch, dass sie gelesen werden.« Und überdies »hatte ich es satt, mich mit Büchern abzuquälen, die mir nicht gefielen und die ich, wenn ich mit den Lesern ehrlich umgehen wollte, verreißen musste«. Wie nicht anders zu erwarten, sind auch die Rezensionen ein wahrer Lesegenuss. Glücklicherweise gibt die Sammlung Was Frauen schreiben eine schöne und hochinteressante Auswahl daraus. Ruth Klüger meint nicht, dass Frauen anders als Männer schreiben, aber »dass sie eben doch einen Blick aufs Leben durch anders geschliffene Gläser« bieten.

Nach Wien, die Stadt, aus der ihr die Flucht nicht gelang, zieht es Ruth Klüger immer wieder. »Wien, deren Wunde ich bin und deren Wunde Wien ist.« Da spricht man ihre Sprache, die Sprache, des gebildeten jüdischen Wiener Bürgertums, die noch in ihren Ohren klingt. »Hier wird das differenzierteste Deutsch gesprochen, das es überhaupt gibt. Nuancenreicher und intelligenter.« 

»Ich komme nicht von Auschwitz her, ich stamm’ aus Wien«. Sie will auf diese Zeit ihres Lebens nicht reduziert werden. Schließlich hat sie Jahrzehnte als Germanistin gewirkt, ihre Wiener Sprache war ihr literarisches Material. »Wenn eine Tierart fast ausgestorben ist, weil sie so intensiv gejagt wurde, dann werden die übrig gebliebenen Exemplare der Art besonders gepflegt«, dieses nüchterne Resümee bringt es auf den Punkt. Und so kommt sie einmal sehr zufrieden von einem Interview zurück, in dem von ihrer Karriere als Germanistin und ihren Essays gesprochen wurde.

Nach Wien zieht es sie – auch wenn es ihr unheimlich heimlich ist: »Ich komm’ ja nur nach Wien wegen Dir und Deinesgleichen. Aber von Euch gibt’s nicht genug«, so schreibt sie in einem Mail, in dem sie sich mit Mahnmalen in Wien auseinandersetzt. 

In Wien will sie ins Theater gehen, einen Schnitzler sehen, besonders gern einen Nestroy, und sie freut sich über Bernhard. Einmal verließen wir Grillparzer in der Pause. Wir fanden die Aufführung misslungen. »Das ist doch nicht Grillparzer. Gehen wir angenehm entrüstet ins Landtmann und trinken ein Achterl.«

Im Wiener Witz ist Ruth zu Hause, sehr gern in der jüdischen Variante mit Selbstironie, doppeltem Boden und Wortkunst. Sie schreibt mir von der Ärztin, die ihr die Diagnose stellt: »Sie haben Star, aber unangenehm, besonders in Ihrem Alter«, sagt die Augenärztin strafend. »Als hätte ich mir das Älterwerden aus Bestemm bestellt.« Dazu fällt Ruth die damals in den USA erörterte Erbsünde ein. Präsident Bush, salbungsvoll, wir seien alle Sünder. »Bei der Ärztin dann UngeSünder.«

In Wien gehen wir zu Lesungen oder sitzen beim Heurigen, die Runde der Freundinnen und einiger Freunde rundherum. Eine Ehrung reflektiert Ruth erleichtert: »Sie war viel weniger ehrenpusselig als ich’s mir gedacht hatte, nämlich doch mit ein wenig Humor.«

Kurz vor ihrem Tod wollte sie nach Wien, dorthin, wo alles anfing, um darüber zu schreiben. 

Empathie und Gerechtigkeit, Kritik und Ermutigung, Freundschaft und Lebenslust, das alles habe ich mit Ruth erlebt. Als sie vom Tod einer Bekannten hört, schreibt sie mir: »Sowas ist ein Riss, die geistige Landschaft ändert sich für immer, wenn einer daraus weg ist.« 

In einem Interview wird sie nach ihrem Lebensmotto gefragt. »Nein, Lebensmotto hab’ ich nicht. Das würde das Leben vereinfachen, auf einen Nenner bringen wollen. Aber das Leben ist vielfältig, darum liebt man es.«

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