Ein abgründig rätselhafter Ort

von Hazel Rosenstrauch

514 wörter
~3 minuten
Ein abgründig rätselhafter Ort
Sophy Roberts
SIBIRIENS VERGESSENE KLAVIERE
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Zsolnay, 2020, 396 Seiten
EUR 26,80 (AT), EUR 26,00 (DE), CHF 36,50 (CH)

Was für eine hübsche Idee. Eine Engländerin, die kaum Russisch spricht, fährt mehrmals, auf oft umständlichen Wegen, nach Sibirien, um Klaviere zu suchen. Alte, russische und deutsche, englische und tschechische, solche, die in Büchern oder von einem ihrer Gewährsleute erwähnt wurden, die auf Schlitten, mit Schiffen, der Transsibirischen Eisenbahn oder Pferdefuhrwerken in die unwirtliche Landschaft verfrachtet wurden. 

Die skurrile Idee entstand bei einer zufälligen Begegnung mit einer Pianistin in einer Jurte. Herausgekommen ist eine kenntnisreiche, gewitzte Kulturgeschichte des riesigen Gebiets vom östlichen Ural bis zum Pazifik. Dazu gehören Rückgriffe auf literarische Berichte ebenso wie hinreißende Porträts von Menschen, die ihr bei der Suche helfen, Klavierstimmern und alten Damen, die sich an ein längst verschollenes Pianino erinnern, Landschaftsbeschreibungen und, natürlich, die Geschichte dieses im Winter eisig kalten, im Sommer von Sümpfen und aggressiven Mücken beherrschten Landes. 

Verbannte unter den Romanows und die in Sibirien verscharrte Zarenfamilie, der stalinistische Terror, Geflüchtete und Exzentrikerinnen haben Sibirien geprägt. »In den dreißiger Jahren schwoll die Bevölkerung um 300 Prozent. Unter den Zuwanderern waren Zwangsarbeiter, die nach Sibirien geschickt worden waren, um im Gulag zu rackern, Opfer der Hungersnot auf der Suche nach einem besseren Leben, Zehntausende Polen und Angehörige anderer unterdrückten ethnischer Gruppen, die gezielt deportiert wurden, sowie Russen, angelockt vom plötzlichen wirtschaftlichen Wachstum der Industriestädte Sibiriens.« Das Buch hat drei Teile, chronologisch von 1762 bis heute, von der Kolonisierung bis in die postsowjetische Ära samt dem Gerümpel, das Militärs noch im fernen Kamtschatka hinterlassen haben, mit grausamen und mit liebevoll erzählten Details von den ersten Strafkolonien im 17. Jahrhundert bis zu den Unterschieden zwischen zaristischer und sowjetischer Verbannung. Das Überleben der Dekabristen und ihrer klavierspielenden Frauen oder Franz Liszts Russlandtournee sind Anlässe, um die Entwicklung der Musikkultur und der Klaviertechnologie auszubreiten, im Bericht über Akademgorodok »hören« wir eine Pianistin mit geschwollenen Fingern und zauberhaftem Spiel; und die Frau eines Gouverneurs auf Kamtschatka bekam ein Klavier, das acht Monate unterwegs war. 

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