Legenden, Lügen, Bla, Theorie

von Andrea Heinz

595 wörter
~3 minuten
Legenden, Lügen, Bla, Theorie
Bov Bjerg
SERPENTINEN
Claassen, 2020, 272 Seiten
EUR 22,70 (AT), EUR 22,00 (DE), CHF 27,90 (CH)

Worum geht es? Das fragt »der Junge«, der Siebenjährige Sohn des Ich-Erzählers in Bov Bjergs Serpentinen ständig. Ja, worum geht es denn? Ein Mann, der Erzähler, fährt mit seinem Sohn in die Schwäbische Alb, an die Orte seiner Kindheit. Es ist eine Aufarbeitungsreise. Der Mann entstammt einer Selbstmörderdynastie. In jeder Generation einer, immer ein Mann: der Urgroßvater, der Großvater, der Vater. »Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere.« 

Der Dreiklang lässt nicht umsonst Assoziationen mitschwingen an ein bestimmtes (wilhelminisches) Deutschland, das es in dieser Form nicht mehr gibt, das aber nach wie vor in manchen Seelen herumgeistert: ein militärisches, imperialistisches. Es geht nicht zuletzt um dieses Deutschland und welche Auswirkungen es, seine (schwarze) Pädagogik, sein Männerbild, noch immer hat. Der Vater des Erzählers war, bevor er sich erhängte, Stuckateur. Oder ging stempeln. Außerdem trank er und prügelte seine Familie. Er war glühender Nationalsozialist: »Er schimpfte nicht auf Ausländer. Er war lediglich der Ansicht, dass Deutschland die Welt beherrschen solle, dass Hitler ein großer Mann gewesen und dass es richtig gewesen sei, möglichst viele Juden umzubringen.« 

Die Armut der Familie steht in grellem Kontrast zu diesen Herrenmenschfantasien, aber das kennt man ja mittlerweile auch von den deutschen Straßen. Die Familie des Erzählers war das, was man, im Feuilleton, als einkommensschwach und bildungsfern bezeichnen würde, oder, im Privatfernsehen, als »Hartzer« oder »Assis«. Wobei es Hartz IV damals noch nicht gab. Aus diesem Elend nun hat sich der Ich-Erzähler, sozusagen, hochgearbeitet: Er ist Soziologieprofessor in Berlin, hat eine erfolgreiche Frau. Früher ging seine Mutter putzen, jetzt hat er selber eine Putzfrau. Die Parallelen zu Didier Eribon und Édouard Louis in Frankreich, zu Christian Barons Ein Mann seiner Klasse in Deutschland, sind frappierend, was dem Autor natürlich nicht einfach so unterlaufen ist, Anspielungen auf Eribon fehlen nicht im Text. 

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