Von den wenigen Gewissheiten über den Terroranschlag vom 2. November in Wien ist die wohl unbestrittenste, dass dieses Attentat verhindert hätte werden können, reichten sich im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) nicht seit Jahren üble Gesinnung und himmelschreiende Inkompetenz die Hände. Anstatt das BVT endlich aufzulösen, verlegt sich die Bundesregierung hingegen auf antimuslimische Stimmungsmache und Strafrechtsverschärfungen. Benjamin Opratko und Alfred J. Noll unterziehen beide Aspekte im Rahmen unserer KONTROVERSEN einer eingehenden Überprüfung.
Die Überlieferung lichterer Momente der österreichischen Polizeigeschichte verdanken wir dem vor zwei Jahren verstorbenen Zeithistoriker Hans Hautmann. Unmittelbar nach Kriegsende – und ganz im Unterschied zur BRD, wo die Gehlens und Gerkens vor und nach dem Mai 1945 in den Geheimdiensten operierten – waren es in Österreich überdurchschnittlich viele Kommunisten, die die unterschiedlichen Sektionen der Exekutive (wieder)aufbauten: Widerstands- und Spanienkämpfer oder Überlebende aus Exil und KZ, wie Heinrich Dürmayr. Vom Frühjahr 1945 an leitete Dürmayer die Abteilung 1, Staatspolizei, in Wien – einen frühen Vorläufer des BVT – und zwar im Sinne des antifaschistischen Grundkonsenses von 1945.
Es wäre keine Aufbruchsgeschichte aus Österreich, hätte ihr Ende nicht ein rechter Sozialdemokrat geschrieben. In diesem Fall: Innenminister Oskar Helmer, der Dürmayer im März 1947 nach Salzburg versetzte.
Vom Ende eines Aufbruchs erzählt auch unsere Titelgeschichte. Vor zehn Jahren löste der Arabische Frühling ausgehend von Tunesien und Ägypten eine Periode globaler Erhebungen aus. Vijay Prashad ist der Frage nachgegangen, was davon bleiben wird. Dass die Revolten – gerade in Ägypten und Tunesien – nicht bloß von einer jungen urbanen Mittelschicht getragen waren, ging in der medialen Rezeption der Ereignisse dereinst geflissentlich unter. Tyma Kraitt ruft in ihrem Beitrag die Rolle der Arbeiterklasse in der Industriestadt al-Mahalla al-Kubra im Nildelta in Erinnerung.
Wie in unserer letzten Ausgabe bereits angekündigt setzen wir mit der vorliegenden manche Veränderung um. Die augenscheinlichste: unser visuelles Erscheinungsbild. In engem Austausch mit unserem Artdirektor Christian Wiedner hat unsere neue Jahrgangsillustratorin Lea Berndorfer einen – wie wir meinen – fulminanten Einstand hingelegt. Wiedner wiederum drehte parallel dazu an vielen weiteren gestalterischen Stellschrauben – von der Nachjustierung typografischer Details über die Haptik (Sie lesen ein TAGEBUCH mit einer erhöhten Papier-Grammatur im Heftkern) bis hin zu flexibleren Layout-Varianten in allen Sektionen des Heftes.
Mehr Flexibilität wollen wir künftig auch im Rahmen unserer KONTROVERSEN walten lassen, die Sektion wird im Einzelfall kürzer geraten, das PRO & CONTRA unregelmäßiger erscheinen. Nach eingehenden Diskussionen haben wir uns darüber hinaus dazu entschlossen, die Rubrik ZAHLEN, DATEN, KARTEN nicht weiterzuführen. Das liegt vor allem an der inhaltlichen Limitierung, der wir uns durch das festgelegte zweiseitige Format ausgesetzt haben. Stattdessen werden wir in Zukunft fallweise längere Beiträge unserer Kolleginnen und Kollegen von Katapult übernehmen. Ihnen, allen voran Julius Gabele, gilt unser Dank für die Kooperation im ersten Jahr.
Anstelle von ZAHLEN, DATEN, KARTEN rückt mit dieser Ausgabe eine neue Rubrik ins Heft: In BILDER DER AUSEINANDERSETZUNG werden Margit Neuhold und Christina Töpfer in jeder Ausgabe kritische fotografische Praxen in den Blick nehmen. Zum Auftakt: eine Fotografie aus Christina Werners Arbeit Die Straße. Im Rhythmus der Arbeiter*innenschaft.
Vielstimmiger soll schließlich auch das Editorial werden. In Hinkunft wird Sie an dieser Stelle jedes Mal ein anderes Mitglied unserer Redaktion in das Heft einführen – in unserer nächsten Ausgabe, die Anfang Februar 2021 erscheint, mein Kollege Benjamin Opratko. Bis dahin: Bleiben Sie gesund – auf lichtere Momente im neuen Jahr!
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