Was vom Aufbruch übrig blieb

von Vijay Prashad

Illustration: LEA BERNDORFER

Vor zehn Jahren läutete der Arabische Frühling eine Periode mutigen Aufbegehrens und bitterer Niederlagen ein.


3642 wörter
~15 minuten

Der Tahrir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo wurde 2011 zum Symbol für ein Jahr der Revolten. Dieses hatte Ende 2010 in Tunesien begonnen, schien sich daraufhin in der Occupy-Bewegung in den USA und den Indignados in Spanien fortzusetzen und später in der ganzen Welt in ähnlichen – und oft direkt aufeinander Bezug nehmenden – Bewegungen zu zeigen. Das Wort vom Arabischen Frühling drückte vermeintlich über alle Kontinente hinweg die Empfindungen der Demonstranten aus, und Varianten des in Kairo skandierten Slogans Ash-shaab yurid isqat an-nizam (dt. »Das Volk will das System stürzen«) hörte man an vielen Orten. Millionen Menschen – meistens Junge, aber auch andere Altersgruppen – strömten auf die großen Plätze auf beiden Seiten des Mittelmeers, um deutlich zu machen, dass es genug war; dass ihre Hoffnungen von Kräften zerstört wurden, die einerseits leicht zu benennen waren, wie die Milliardäre und deren intime Nähe zum Staat, sich andererseits schwer bestimmen ließen, wie die Kräfte des Finanzkapitals, die die Möglichkeiten für eine humane Politik untergraben hatten (so die Regierungen überhaupt etwas für die Mehrheit tun wollten).  

Die scharfe Kante des genannten Slogans – »das System stürzen« – wurde vielerorts unterstützt, nachdem große Gruppen von der Wahl zwischen dem kleineren oder größeren Übel erschöpft waren und nun etwas, irgendetwas, jenseits dieses elektoralen Horizonts, seiner Spiele und Enttäuschungen suchten. Gab es denn einen so großen Unterschied zwischen dem Wahlergebnis in Ägypten von 2005, als Langzeitherrscher Hosni Mubarak mit beachtlichen 88,6 Prozent den Sieg davontrug, und dem Ergebnis der Parlamentswahlen in Großbritannien im Mai 2010, als die Konservativen mit den Liberaldemokraten in eine zuvor undenkbare Koalition gingen und mit insgesamt 58,1 Prozent der Stimmen gegen den Willen der Wählerinnen regierten? Die Studierendenproteste, die im November und Dezember über das Land zogen, hatten sich unter anderem daran entzündet, dass die Liberaldemokraten eines ihrer zentralen Wahlversprechen gebrochen hatten: die Studiengebühren nicht zu erhöhen. Egal, für wen man stimmte, das Ergebnis war immer ähnlich. In Großbritannien skandierten die Studierenden »Griechenland, Frankreich – jetzt auch bei uns!« Sie hätten Chile hinzufügen können, wo Schülerinnen bereits 2006 gegen Kürzungen im Bildungsbereich auf die Straße gegangen waren, die Bewegung der pingüinos. Die Proteste flammten im Mai 2011 wieder auf, umfassten nun auch Universitätsstudenten, wurden zum invierno estudiantil chileno, dem Winter der chilenischen Schüler und Studentinnen. Sie dauerten in unterschiedlicher Form zwei Jahre fort. 

»Das System stürzen« wurde deshalb zum Motto, weil das Vertrauen in das jeweilige etablierte Regime nur noch schwach war und die Forderungen der Bewegungen über das scheinbar Mögliche bald hinausgingen. Es ging den Protesten freilich nicht bloß um einen Sturz von Regierungen. Zu verbreitet war die Erkenntnis, dass es sich nicht allein um ein Regierungsproblem, sondern um ein Problem mit den verbliebenen Möglichkeiten des politisch Denkbaren handelte. Eine ganze Generation (in vielen Fällen bereits derer mehrere) hatte bereits Kürzungspolitiken durch Regierungen unterschiedlicher Couleur miterlebt. Auch sozialdemokratische Regierungen änderten nichts daran, dass die Rechte von Kapitalbesitzern mehr galten als die von Bürgerinnen. So entstand enttäuschte Fassungslosigkeit gegenüber Regierungen, die mit einem progressiven Anspruch angetreten waren, aber ihr grundlegendes Versprechen vom Ende der Austeritätspolitik nicht halten konnten. Die von Syriza geführte Koalition in Griechenland wurde 2015 zu einem emblematischen Symbol für solch eine Enttäuschung.

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