Der Griechische Unabhängigkeitskrieg von 1821 bis 1829 war mehr als nur ein exotischer Mikrokonflikt an der Peripherie Europas. In ihm hielten jene neuen großen Ideologeme und Themen Probe, welche die letzten 200 Jahre bis heute grundieren: Nationalismus, Imperialismus, Orientalismus, Medienpropaganda, humanitärer Interventionismus, die Erfindung von Traditionen, Plünder- und Hilfslieferungsökonomie, antimuslimische und protürkische Positionen, Kreditimperialismus, Ethnoromantik, Zivilisationsdünkel, Aufklärung und romantische Gegenaufklärung …
Ein besonders anspruchsvolles Schulschiff für historisches und politisches Denken stellt dieser Krieg zur Verfügung, selten haben sich bei einem solchen so viele unterschiedliche Motive zu einer gemeinsamen Sache gebündelt – man könnte von einer babylonischen Diskursverwirrung sprechen. Sein interessantester Aspekt ist wohl eine besonders eklatante Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Beim Gros der Insurgenten – Banditenkrieger, Bauern, orientalische christliche Eliten und orthodoxer Klerus – brach sich das letzte Mal ein frühneuzeitliches feudales Konzept von Aufstand mit allen dazugehörigen Gräueln Bahn, während es einer Schar westlich gebildeter Intellektueller gelang, dem befreiten Gebiet die modernste demokratische Verfassung ihrer Zeit zu geben. Eine je nachdem lust- oder schmerzvolle Erfahrung kann es sein, gängige, auch manche ahistorische linke Interpretationsversuche – wer waren hier die Progressiven, wer die Reaktion, wer die Guten, wer die Bösen, wo die Russen, Deutschen, Amis? – in die gleichen ideologischen Hinterhalte marschieren zu sehen wie die Philhellenenbrigaden von einst, die auf Hellas’ Boden für völlig unterschiedliche Ideen ihr Leben gaben, für die sie eigentlich einander hätten bekämpfen müssen: Engagierte Christen wollten griechische Christen von muslimischer Herrschaft befreien, klassizistische Romantiker (die Mehrzahl) die Nachkommen der antiken Griechen vor den gerade aktuellen Persern schützen, republikanische Revolutionäre stellvertretend für ihre heimischen Despoten ein absolutistisches Regime stürzen, wertkonservative Nationale edlen hellenischen Wilden gegen eine dekadente Zivilisation beistehen. Hier nur ein paar selektive Kostproben aus dem Pandaimonion griechisch-europäischer Widersprüche.
Revolutionäre Wurzeln
Eine wirkliche Revolution hätte die Epanastasis tou Ikosiena (die Revolution von 1821) werden können, wäre sie von deren Vordenker Rigas Feraios angeführt worden, der seine letzten Jahre in Wien verbrachte. Doch war dieser bereits 24 Jahre zuvor von der Habsburger Geheimpolizei an seine osmanischen Mörder in Belgrad ausgeliefert worden. Sein Verfassungsentwurf erweiterte die französische Revolutionskonstitution durch einige frühsozialistische und feministische Ideen und sah eine explizit multiethnische Balkanföderation vor (wenngleich unter griechischer Suprematie). Er rief neben Albanern, Wlachen, Bulgaren und anderen auch seine türkischen Nachbarn auf, sich am Aufstand gegen den Sultan zu beteiligen. Seine Revolution war weder eine antitürkische noch eine antimuslimische, sondern ganz dem politischen Nationsgedanken verpflichtet, der keine Souveränität der Völker, sondern nur des Volkes kannte, welche Sprachen es auch immer sprechen mochte.
Rigas forderte einen Wohlfahrtsstaat mit staatlich garantiertem Grundeinkommen, das Recht auf direkte Demokratie, zivile Kontrolle des Militärs, absolute Transparenz des Steuerwesens, die Abschaffung der Todesstrafe und Koedukation von Mädchen und Knaben. Die Insurgenten von 1821 sangen zwar seine Lieder, aber sein brüderlicher, jakobinischer Geist war dem permanenten Hauen und Stechen von Oligarchen und Warlords gewichen.
Die Fixierung auf das Territorium des heutigen Staatsgebiets ist eine westliche Idee, welche vom Ideal des antiken Hellas auch geografisch eingegrenzt wurde. Hätten die moderneren Akteure der Revolution geahnt, dass sie bloß die Ziegenweiden des mykenischen Hellas befreien würden, hätten sie wohl darauf verzichtet. Ihre Vision eines befreiten Griechenlands war eine neobyzantinische, ihre projektierte Hauptstadt nicht Athen, sondern nichts weniger als Konstantinopel. Völlig falsch also ist die Vorstellung vom »ersten ethnonationalen Befreiungskrieg«. Eric J. Hobsbawm meinte einmal, dass die wenigsten der Beteiligten griechische Patrioten waren. Eine griechische Identität im modernen säkularen Sinn bedeutete ein Abstraktum, desgleichen das Bewusstsein der Kontinuität zu den antiken Griechen, das lediglich die gebildeten westlichen Schichten zu ihrer enthusiastischen Solidarität animierte – und tausende junge Brigadisten dazu, ihr Verderben zu suchen. Die sogenannten Griechen nannten sich »Romioi«, Römer, was eine orthodox-byzantinische, also eine oströmische Identität bezeichnete. Dem griechischen Romios waren albanische und slawische Romioi näher als griechischsprachige Katholiken. Das heutige Erstaunen über die große Zahl an Albanerinnen und Aromunen (Wlachen) beim Befreiungskampf ist lediglich das Resultat der nationalen Formatierung unseres Denkens. Für die zeitgenössischen »Griechen« hatte sie keinerlei Bedeutung. Noch 1923 triumphierte die konfessionelle über die ethnische Identität, als beim Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei muslimische Griechinnen und orthodoxe Türken (Karamanen) aus ihrer jeweiligen angestammten Heimat vertrieben wurden. »Türke« war ein Synonym der Christen für alle Muslime, auch griechische Musliminnen. Unter den Muslimen des Reichs indes galt der Begriff Türke als Abwertung für die einfache anatolische Landbevölkerung.
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