Sabotage, Sex und Kalter Krieg

von Helmut Neundlinger

Der Schriftsteller Karl Wiesinger schrieb jahrzehntelang an einem politisch-literarischen Tagebuch. Ein Teil der Aufzeichnungen wurde in seinem Nachlass entdeckt und steht jetzt als digitale Edition zur Verfügung.


2179 wörter
~9 minuten

Würde der Linzer Schriftsteller Karl Wiesinger (1923–1991) heute leben, wäre er vermutlich Blogger. Zu Lebzeiten war er das, was man einen engagierten Literaten nennen könnte: In seinem Tagebuch, das nach seinem Tod in seinem literarischen Nachlass gefunden wurde, kommentierte er über vier Jahrzehnte nicht nur Privates, sondern betätigte sich als kämpferischer Chronist des Kalten Krieges. Eine kommentierte digitale Edition macht die Aufzeichnungen dieses radikalen Außenseiters aus den Jahren 1961 bis 1973 nun zugänglich und bietet eine literarisch-zeitgeschichtliche Quelle ungewöhnlichen Ausmaßes. Auf 750 eng beschriebenen Typoskriptseiten entfaltet sich das innere Drama eines politischen und literarischen Kampfes um eine vom US-imperialistischen Joch befreite Welt (das allerdings die politischen Schulden der Sowjetunion bemerkenswert verdrängt).

Ein differenzierter Blick auf Wiesingers Leben und Werk ist nicht zu haben ohne die Bezugnahme auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund, vor dem sich seine Entwicklung vollzieht. Geboren in kleinbürgerliche Verhältnisse, als Sohn eines Dentisten und einer Hausfrau in Linz-Urfahr, erfährt er eine frühe Politisierung durch die Spannungen der Zwischenkriegszeit, die sich im Februar 1934 gewalttätig entladen. Kurz vor seinem elften Geburtstag wird er Augenzeuge der Kampfhandlungen, die in Linz am 12. Februar ausbrechen, als sich eine Schutzbund-Truppe im Hotel Schiff gegen die Entwaffnung durch die austrofaschistische Heimwehr zur Wehr setzt. In einem Interview mit der Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft im Jahr 1974 erinnert Wiesinger sich an die traumatischen Eindrücke: »Die Schüsse damals und die Belagerung des Zentralkinos durch das Bundesheer und die Pferdekadaver nachher auf den Straßen und die Munitionshülsen, die ich gesehen hab als Kind, das hat mich sehr stark beeindruckt, ohne allerdings damals noch richtige Konsequenzen ziehen zu können.« Wiesingers persönliche Konsequenzen folgen kurze Zeit später, im Jahr 1937, als er aufgrund der Nachrichten vom Spanischen Bürgerkrieg eindeutig Partei zu ergreifen beginnt: »Das offensichtliche Unrecht, dass da eine demokratisch gewählte Rote Republik von Faschisten niedergewalzt, niedergebombt wird, das hat schon seine Auswirkungen gehabt.« 

Wandervogelzeit

In seinem Tagebuch finden sich Erinnerungsbilder, die in die Zeit der Pubertät zurückblenden und das Dilemma eines – heute würde man sagen – leicht wohlstandsverwahrlosten Rabauken deutlich benennen: »dann, in unbewusster und in falscher richtung verlaufender auflehnung gegen das regime. diebstahl, einbruch bei verdunkelung, unterschlagung etc. und immer agitiert, hilflos und kindisch, für den kommunismus«, beschreibt er im Oktober 1966 seine zunächst eher diffuse Rebellion und nennt als Grund die fehlende ideologische Bildung: »es gab keine stelle, die mich gelehrt hätte, was kommunismus ist. auch der vater wusste nur ungefähr ideales zu erzählen, heimlich ängstlich, vorsichtig«. Wiesinger vollzieht eine frühe Emanzipation aus den engen, katholisch geprägten Familienverhältnissen als unsteter Wander- und Gelegenheitsarbeiter, zum Teil auch im bereits nationalsozialistischen Deutschland. Im Tagebuch versieht er eine Aufzählung seiner Tätigkeit mit der rhetorischen Frage: »als was habe ich nicht alles gearbeitet, damit ich meine proletarische vergangenheit beweisen kann?« In dieser Formulierung steckt die Hybris seiner Tagebuch-Unternehmung: Einerseits leistet er eine Art der Foucault’schen Parrhesia, des Sich-frei-Sprechens jenseits jeglicher (selbst-)zensierender Instanzen, andererseits unternimmt er im selben Ausmaß eine umfassende Selbstinszenierung, die die Wahrheit ganz im Sinne Nietzsches als ein »bewegliches Heer von Metaphern« begreift, einen Polemos um die ideologisch gerechtfertigte Selbstdeutung. 

Wiesinger bilanziert seine Wandervogelzeit im Juli 1961. Biografisch markiert die Phase um 1960 tatsächlich eine Schwelle: Er gibt seine Dentisten-Praxis auf, weil er aufgrund seiner chronischen Tuberkulose zu schwerer körperlicher Arbeit nicht mehr in der Lage ist. Er tritt erneut in die KPÖ ein, die er 1949 verlassen hatte, weil er, wie er im Tagebuch schreibt, »die parteidisziplin zu ernst genommen und mich kaum als ›freier schriftsteller‹ so entfalten können« hätte. Liegt in dieser vorübergehenden »Untreue« der Grund für sein Bemühen, sich im Nachhinein eine »proletarische vergangenheit« zu konstruieren? In der Verleugnung seiner politischen Positionen war Wiesinger zu Beginn der 1950er Jahre denkbar weit gegangen: Um als freier Autor leben zu können, verdingte er sich unter dem Pseudonym Frank Israel Noel als Verfasser von Groschenromanen, die im Spionagemilieu des Kalten Krieges angesiedelt und als vollkommen unkritische US-Apologie verfasst waren. Zudem diente sich Wiesinger dem dezidiert antikommunistischen Autor und Literaturnetzwerker Hans Weigel an, dessen Unterstützung er bei der Verlagssuche tatsächlich gewann. Weigel fungierte 1953 bei Wiesingers Hochzeit gar als Trauzeuge, was diesen nicht davon abhielt, Weigel ebenso wie zahlreiche andere Vertreter des Nachkriegskulturlebens im Tagebuch wild zu beschimpfen. Da die frühen Jahre der Tagebuchaufzeichnungen als verschollen gelten müssen, lässt sich über Wiesingers Selbstreflexionen zu dieser Zeit nur spekulieren. Der überlieferte Teil seines Life-Writing-Projekts avant la lettre dokumentiert sein fortschreitendes Bemühen um Eindeutigkeit.

Dieses Ringen um biografische Eindeutigkeit entspringt der Auseinandersetzung mit seiner Herkunft aus der kleinbürgerlichen Klasse. Früh schon ringt er mit der katholisch-klerikalen Enge, die er nicht nur im Elternhaus, sondern auch während seiner Zeit als Internatsschüler im Stephaneum Bad Goisern erleidet. Einer seiner Mitschüler ist der spätere Autor und KP-Funktionär Franz Kain (1922–1997), mit dem Wiesinger eine mit wechselseitigen Vorbehalten garnierte lebenslange Freundschaft verbindet. Im Stephaneum sind sie Lehrern ausgesetzt, die »dauernd von dollfuss oder schuschnigg« sprechen, wie Wiesinger im Tagebuch schreibt. Am deutlichsten tritt sein Klassenselbsthass in der Beschreibung jener Episode hervor, die seine Selbstdeutung prägte wie kaum eine andere: Nachdem er 1941 zur Wehrmacht eingezogen worden war, meldete er sich zur Transportbrigade Speer und wurde nach Finnland verlegt. Dort beging er mit einem politisch gleichgesinnten Kameraden namens Otto Fürst Sabotageakte und wurde wegen Abhörens ausländischer Sender beziehungsweise »Wehrkraftzersetzung« angeklagt. Beim anschließenden Prozess in Berlin erfolgte ein Freispruch, den Wiesinger selbst in einem undatierten Lebenslauf als Ausdruck der »klassenjustiz« bezeichnet, »da ich meiner herkunft nach zur bourgeoisie gehörte«. In ähnlichen Worten bezieht er sich im Tagebuch auf dieses Ereignis: »ich bin ein opfer der klassenjustiz im positiven sinne. wäre ich ein arbeiterkind gewesen, wäre meine mutter verschüchtert und arm gewesen – ich lebte nicht mehr. […] so aber wurde ich freigesprochen als ›einer der ihren‹. wie viele einfache junge leute aus arbeiterkreisen haben sie ermordet wegen geringfügigeren taten. darum fühle ich mich der arbeiterklasse verpflichtet.«

Der proletarisch-revolutionäre Romanautor

Diese Verpflichtung leuchtet als Menetekel über Wiesingers Aufzeichnungen und prägt sein literarisches Schaffen. Waren seine in den 1950er Jahren verfassten und zum Teil in Linz aufgeführten Theaterstücke noch stark humanistisch geprägt und von seinem Kollegen Franz Kain mit dem Verdikt der »ideologischen Wurzellosigkeit« belegt worden, munitionierte sich Wiesinger im Lauf der 1960er Jahre zum proletarisch-revolutionären Romanautor auf. Mit seiner Trilogie Standrecht (über die Februarkämpfe 1934), Achtunddreißig (über den »Anschluss«) und Der rosarote Straßenterror (über den Oktoberstreik 1950) schuf er ein zeitgeschichtliches Panorama als literarische Parteinahme im strengen Wortsinn. Der parallel zu diesem Schaffensprozess im Tagebuch sich konstituierende Subtext stellt sich als Einübung in ideologische Festigkeit dar: Was an proletarischen Biographemen fehlt, wird zum Teil in der KP-Parteischule Mauerbach, zum Teil bei Vorträgen des KP-Volksbildners Walter Hollitscher (1911–1986) »nachgelernt«, die sich im Tagebuch in Form von seitenweisen Exzerpten finden. Darüber hinaus finden sich umfangreiche Berichte von Reisen in die ČSSR, die DDR und die UdSSR, in denen die Indoktrinierung ihren Widerhall im akribischen Verzeichnen des Zahlenmaterials findet, mit denen die politischen Referenten der Gastländer die Überlegenheit ihres Gesellschaftsmodells untermauern. In gewisser Weise stehen diese Berichte in der literarischen Tradition der Russlandberichte westlicher Schriftsteller und Intellektueller in den 1920er Jahren wie John Reed (Ten Days That Shook the World) oder Joseph Roth (Reisen in die Ukraine und nach Russland). Sie finden ihr Motiv auch in der umfassenden antikommunistischen Propaganda, mit der das politische Experiment in den westlichen Medien überzogen wurde. Bei Wiesinger geht die Identifikation so weit, dass er sich zwei Mal vergeblich um die Erlangung der DDR-Staatsbürgerschaft bemüht, allerdings nicht statt, sondern zusätzlich zur österreichischen. Dieser Akt hätte für ihn wohl den Gipfel der Selbstproletarisierung dargestellt, wäre er dadurch ja eine Art Ehrenbürger des Arbeiter- und Bauernstaates geworden. 

In seinem Tagebuch finden sich die Spannungen des Kalten Krieges, die sich in den 1960er Jahren entlang der Kubakrise, des Vietnamkriegs sowie der Unterdrückung reformorientierter Politik im Ostblock stark zuspitzen, gleichsam in den innersten Kern der Existenz verlegt. Seismografisch verzeichnet Wiesinger die globalen Konflikte und liest sie als eine Art Endkampf der Systeme, den er mit pointierten Formulierungen begleitet: »die sogenannte ›freie welt‹ versteht es besser als göbbels, die menschen mit lügensuppen dumm zu machen. man merkt es immer wieder. und so schlachten die bürgerlichen faschisten menschen in angola, in südafrika, vietnam, korea. wo die ›freie welt‹ verteidigt wird, wird gemordet«, schreibt er im November 1961. Propaganda ist ein zentrales Thema in Wiesingers Tagebuch, insofern lässt es sich auch als ein umfassender Versuch der Gegenerzählung lesen. Häufig nimmt er Bezug auf die seiner Meinung nach völlig verzerrte Darstellung von Ost-West-Differenzen, sei es in den Medien, sei es in der Alltagskommunikation. Dabei gelingen ihm Passagen von polemischer Brillanz: »spazierfahrt durch die südwestliche peripherie von linz. da gibt es elendsviertel. bretterhütten, arbeitssklaven, arme teufel. daneben kirchen, deren wert in die zehn und zwanzig und dreissig millionen geht.« Mit solchen Perspektivenwechseln lenkt Wiesinger den Blick auf die Ungleichheit im sogenannten Wohlfahrtsstaat, um die westlichen Bilder vom Elend im real existierenden Sozialismus zu relativieren.

Das bewahrt ihn allerdings nicht davor, die Propaganda gegen Systemkritiker im Ostblock zu übernehmen. »in moskau wurden zwei üble verleumder und unruhestifter verurteilt«, schreibt er im Februar 1966 anlässlich des Moskauer Prozesses gegen die beiden Dissidenten Juli Daniel und Andrej Sinjawski. »geheul in der bürgerlichen welt, die sonst jedes verbrechen hinnimmt, wenn es nur im namen des abendlandes geschieht.« Die beiden Schriftsteller wurden aufgrund der Publikation regimekritischer Texte im Ausland zu mehreren Jahren Lagerhaft verurteilt. Ihnen gegenüber erweist sich Wiesinger ähnlich gnadenlos wie hinsichtlich des Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 in der ČSSR, mit der die dort entstandene sozialistische Reformbewegung beendet wurde. Die Verzweiflungstat des tschechischen Studenten Jan Palach, der sich am 21. August 1968 am Prager Wenzelsplatz selbst anzündete und einige Tage später an den Folgen der Verbrennungen verstarb, kommentiert Wiesinger folgendermaßen: »neueste modewelle bei irregeführten jugendlichen: sich verbrennen.« 

Die ideologische Versteinerung lässt sich auch an dem persönlichen Protokoll vom XX. Parteitag der KPÖ im Jänner 1969 ablesen, das sich in Wiesingers Tagebuch findet. Er kommentiert den Streit zwischen Reformern und Hardlinern, der sich aufgrund der Entwicklungen in der ČSSR zugespitzt hatte und in den Ausschluss oder freiwilligen Rückzug prominenter KP-Mitglieder mündete. Eines der Hauptangriffsziele auf diesem Parteitag: Franz Marek, der den reformkommunistischen Diskurs in Westeuropa aufgrund seiner Nähe zur italienischen KP und deren Vordenker Palmiro Togliatti stark prägte. Sowohl Marek als auch Ernst Fischer hatte Wiesinger in den frühen 1960ern immer wieder anerkennend zitiert – nun übernahm er die diffamierende Propaganda gegen die beiden Reformer in sein rhetorisches Repertoire. Befeuert wird die zunehmende Verhärtung in der Diktion nicht zuletzt durch eine massive Schreibkrise, in die Wiesinger als Autor aufgrund seiner anhaltenden Erfolglosigkeit gegen Ende der 1960er Jahre stürzte. 

Wiesinger auf seinem Boot »Mao Tse Tung« in Vela Luka (Jugoslawien), um 1970.
(Foto: Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich)

Sexreporte und experimentelle Kurzprosa

Zusehends schematisch und gespickt mit pornografischen Stereotypen werden zudem Wiesingers detailreiche Schilderungen seiner sexuellen Abenteuer. Auch hier folgt das Tagebuch einer Logik der Konstruktion: Wiesinger inszeniert sich in seinen Erinnerungen an frühe sexuelle Begegnungen ebenso wie in den Beschreibungen rezenter Affären als hemmungsloser Don Juan, nicht zuletzt um die offenbar weitgehend frustrierende Beziehung zu seiner Frau Eva zu kompensieren. Die akribischen Sexreporte fungieren ebenso als Gegenerzählung wie der Versuch, seine Klassenherkunft proletarisch zu überschreiben. Auffällig ist, dass der Sex in Wiesingers politischen Romanen kaum eine Rolle spielt. Dabei formuliert er in seinen allgemeinen Reflexionen zum Geschlechterverhältnis durchaus emanzipatorische Ideen: »die ehe, mit dem eigentumsbegriff entstanden, wird mit diesem wieder verschwinden. dadurch wird das leben natürlicher, vielgestaltiger und abwechslungsreicher, kurzum, menschlicher.« Eine starke Linie besteht vom Tagebuch-Sex zu jenem Text, mit dem er sich zu Beginn der 1970er Jahre für kurze Zeit geradezu kometenhaft aus seiner Schreibkrise herauskatapultiert: Er fingiert einen Autor namens Max Maetz, verpasst ihm die Biografie eines 1945 geborenen Jungbauern und lässt ihn experimentelle Kurzprosa in radikaler Kleinschreibung ohne Satzzeichen verfassen, die auf derbe Weise vom Leben auf dem Land erzählen. Zuweilen wirken die Szenen, als hätte sie der Filmregisseur Quentin Tarantino
bei ihm bestellt. Schreiberisch befreit sich Wiesinger darin von jeglicher Orthodoxie und begleitet diesen geglückten Ausbruchsversuch kommentierend im Tagebuch: das Erscheinen der ersten Episoden in Literaturzeitschriften, Lesungen in Linz mit einem Schauspieler anstelle des Jungautors, schließlich der Abdruck der gesammelten Maetz-Geschichten unter dem Titel Bauernroman. Weilling, Land und Leute 1972 im Düsseldorfer Verlag Eremitenpresse. Am Ende bleibt Wiesinger die Einsicht, dass er für etwas gelobt und gefeiert wird, das im Grunde nicht sein Anliegen war. »der mensch von heute braucht zu allem die show«, schreibt er als Resümee. »und ich brauche das theater.«

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