David Mayer | In deinen Arbeiten zur Geschichte von Epidemien betonst du den Unterschied zwischen ihren virologischen und ihren sozialen Gesichtern. Wie zeigt sich dieser Unterschied, vor allem im historischen Vergleich?
Dora Vargha | Das Auf und Ab von Infektionszahlen stimmt nicht notwendigerweise mit der sozialen Erfahrung einer Krankheit überein. Das gilt nicht zuletzt für Maßnahmen zur Bekämpfung von Krankheiten, die mitunter einem deutlich anderen Rhythmus folgen. Auch ist das Erleben für die unterschiedlichen Gruppen ein anderes – etwa für jene, die von einer Epidemie direkt betroffen sind, oder für jene, die mit der biologischen Seite einer Epidemie nicht direkt in Berührung kommen. Diese beiden Seiten, die biologische und die soziale, sind natürlich eng miteinander verknüpft und sie beeinflussen sich gegenseitig. Die Ausbreitung eines Pathogens vollzieht sich normalerweise durch menschliche Interaktion. Die Weise wiederum, wie wir diesen Prozess als Krankheit verstehen, und die Antworten, die wir darauf als Individuen und Gemeinschaften formulieren, beeinflussen diese Ausbreitung – und umgekehrt. Deshalb ist jede Epidemie auf ihre Art singulär. Wie Charles Rosenberg, einer der Begründer der historischen Erforschung von Epidemien, sinngemäß meinte: Wir müssen jedes Pathogen in seiner spezifischen Zeit und Gesellschaft verstehen.
DM | Manche Kommentare zur Covid-19-Pandemie unterstellen: Wenn wir noch in einer Welt wie 1988 leben würden – das heißt in einer weniger globalisierten, in der Grenzmauern wesentlich höher erschienen und die Mobilität insgesamt geringer war –, dann hätte man ein neues Pathogen wie Sars-CoV-2 leichter eindämmen können. Ist solch eine »nostalgische« Sicht gerechtfertigt? Waren frühere Pandemien leichter einzuhegen?
DV | Pathogene machen, wie man weiß, nicht vor Grenzen Halt. Das war im Kalten Krieg nicht anders. Grenzen und deren intensive Kontrolle konnten die Ausbreitung von Viruserkrankungen wie der Poliomyelitis in den 1950er Jahren oder HIV/Aids in den 1980er Jahren nicht verhindern. Aus epidemiologischer Sicht war der Eiserne Vorhang durchlässiger, als man denken könnte. Nicht nur drangen Viren wie das Poliovirus relativ leicht hindurch und verursachten verheerende Ausbrüche in Ost wie West. Auch Impfungen, Wissenschafterinnen, Eiserne Lungen (Beatmungsgeräte, Anm.), Patienten und Ärztinnen überquerten diese Grenzen immer wieder und schufen dabei scheinbar neutrale Räume, die es ohne die Krankheit so nicht gegeben hätte.
Historische Unterschiede liegen somit weniger in der Ausbreitung von Epidemien, sondern im Umgang mit ihnen. Und dieser hängt, wie gesagt, von der jeweiligen politischen Konstellation und den Erklärungen für die Krankheit ab – von der Art, wie ihr von der Gesellschaft Sinn verliehen wird. Polio zum Beispiel stellte Ost und West vor ähnliche Herausforderungen und bedrohte vor allem Kinder mit den bekannten Lähmungserscheinungen, zu einer Zeit, als vielerorts die Gesellschaften und ihre Infrastrukturen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut werden mussten. Dies schuf einen Raum für Zusammenarbeit. Zugleich gab es eine Reihe von Dingen, die sich entlang der Konfliktlinie des Kalten Krieges ausgestalteten. Dies betraf etwa die Impfung und ihre Herkunft, aber auch die Struktur der Gesundheitsversorgung, den Modus, wie der Impfstoff vertrieben wurde, oder die Schwerpunkte des jeweiligen gesundheitspolitischen Leitbilds. Insgesamt kann man sagen, dass der Eiserne Vorhang, zumindest mit Blick auf Epidemien und ihre Bekämpfung, eher als ein bewegliches Objekt mit vielen, sich ständig verändernden Öffnungen und Schließungen erscheint als ein statisches Mauergebilde.
DM | Was können uns frühere historische Erfahrungen über die Rolle von Migration in der Dynamik von Epidemien sagen?
DV | Das Zusammenspiel von Mobilität und Krankheiten ist kein neues Thema. Die Wurzeln einer globalen Gesundheitspolitik reichen zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals herrschte Angst vor einer weiteren Ausbreitung von Cholera, Gelbfieber und der Pest, begünstigt durch den Handel. Dies führte zu einer neuen Zusammenarbeit zwischen Medizin und Diplomatie.
Man könnte jedoch noch weiter in die Vergangenheit zurückblicken. So geht es bei der Quarantäne, einer jahrhundertealten Praxis, um die gleichen Fragen. Und jene, die als anders angesehen wurden, als Verursacher von Erkrankungen zu verdächtigen, hat eine noch längere Geschichte. In der Moderne kommt nicht nur die Idee hinzu, dass Krankheiten von außen, durch Erreger induziert werden – was man als bakteriologische Revolution bezeichnen könnte –, sondern auch, dass sich diese Vorstellung über die medizinische Sphäre hinaus verfestigt. Metaphern von Ansteckung und Krankheit fanden dadurch weite Verbreitung, etwa bei der Brandmarkung von »Anderen« – Außenseitern und Minderheiten – als pathologische Bedrohung für den Volkskörper. Aber auch bei der Auffassung, gefährliche Gedanken – wie der Kommunismus – verbreiteten sich wie Epidemien und müssten »eingedämmt« werden. Solche Metaphern aufzugreifen und durch Wiederholung zu verstärken, oder ganze Länder oder ethnische Gruppen mit einem Virus gleichzusetzen – ich denke da an Donald Trumps Rede vom »chinesischen Virus« –, bleibt nicht ohne Folgen. Das 20. Jahrhundert ist voll von dunklen Beispielen, die belegen, was passiert, wenn Außenseiter, Geflüchtete oder Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen pathologisiert werden. Es kommt einem Freibrief für eine Politik der Exklusion, Diskriminierung oder Vernichtung gleich.
DM | Momentan wird von Politikern und Politikerinnen versprochen, dass – mithilfe der Impfung – das Leben bis zum Sommer wieder »normal« sein wird. Woran erkennen wir, dass eine Pandemie zu Ende geht?
DV | Wie viele andere bin ich mit dem Begriff »normal« vorsichtig. Im besten Falle wird es eine »neue Normalität« geben. Oder womöglich die Fortführung von Praktiken, die uns Anfang 2019 noch unvorstellbar waren und die wir mittlerweile als alltäglich betrachten. Und als Historikerin bin ich ohnehin zurückhaltend, was Vorhersagen für die Zukunft betrifft. Mein Terrain ist die Vergangenheit im Allgemeinen, im Besonderen aber denke ich darüber nach, wie unterschiedlich Zeitlichkeiten sein können und wie Gesellschaften Narrative aufziehen – wie wir Erzählungen über Erfahrungen kreieren, bereits in dem Moment, da wir diese machen, aber auch später, im Rückblick. Epidemien sind da ein Bilderbuchbeispiel. Wir denken über sie in Form eines dramaturgischen Bogens, mit Beginn, krisenhaftem Höhepunkt und Ende. Das hilft dabei, auf bestimmte Ziele hinzuarbeiten, gesundheitspolitische Vorgaben zu machen, sich an Vorschriften zu halten und neue medizinische Technologien zu entwickeln. Diese Vorstellung von Epidemieverläufen hat eine doppelte Bedeutung, die sie umso verführerischer macht: Einerseits treten uns Epidemien dadurch als aus dem »normalen« Alltag herausgehoben entgegen, andererseits erscheinen sie uns als kontrollierbar, als wäre es möglich, sie auf ein Ende hin zu steuern. In Wahrheit jedoch ist das Ende einer Epidemie – oder ihr krisenhafter Höhepunkt – eine retrospektive Tatsache. Dass eine Epidemie zu Ende ist, wissen wir erst lange nach ihrem eigentlichen Ende. Einige Regierungen, Gesundheitsbehörden, aber auch viele Bürgerinnen erwarteten in den 1920er Jahren noch jahrelang eine weitere Welle der Spanischen Grippe, bevor klar wurde, dass die dritte die letzte war. Hinzu kommt, dass mit dem Begriff »Ende« die komplizierte Überlagerung von lokalen, nationalen und globalen Ebenen überdeckt wird. Gibt es eine bestimmte Anzahl an Orten, an denen eine Pandemie abflaut, damit diese als »beendet« gilt? Wie sollen wir das »Ende« im Falle von Covid-19 bestimmen? Aus der Warte der WHO gibt es zum Beispiel bestimmte Vorgaben und Standards, um das Ende einer, wie es heißt, gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite zu erklären. Was unweigerlich zu der Frage führt: Wer hat das Recht, das Ende einer Pandemie auszurufen und wer wird dabei übergangen? Was passiert nach dem offiziellen Ende der jetzigen Covid-19-Pandemie beispielsweise mit jenen, die am sogenannten Post-Covid-Syndrom, auch als Long Covid bekannt, leiden, über das noch wenig bekannt ist?
DM | Was sind die globalen Auswirkungen dieser Vielzahl von Enden – vor allem mit Blick auf die Kluft zwischen globalem Norden und globalem Süden?
DV | Die Art und Weise, wie Pandemien zu Ende gehen, ist nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich höchst unterschiedlich. Pandemien bestehen aus miteinander verbundenen Epidemien, die sich über die Welt verbreiten, aber eben mit unterschiedlichen Rhythmen und Wellen. Wenn nun einige dieser örtlich abgrenzbaren Epidemien »zu Ende gehen«, können sich bestehende regionale Ungleichheiten weiter verfestigen. Das ist natürlich immer abhängig von dem Einfluss, den bestimmte Länder in globalen Entscheidungsprozessen geltend machen können, oder von ihrer Zugriffsmöglichkeit auf internationale Finanzressourcen für Gesundheit. Daher kann es schnell zu einer Entkoppelung von Dringlichkeit und Notlage führen, wenn frühzeitig das Ende einer Pandemie ausgerufen wird.
Eine Pandemie stellt eine akute globale Bedrohung dar, dementsprechend erfährt sie viel Aufmerksamkeit und es können rasch Maßnahmen ergriffen und Ressourcen mobilisiert werden – auf internationaler wie nationaler Ebene. Werden die unmittelbar damit verbundenen Probleme erst einmal als »gelöst« und die Pandemie als »vorüber« betrachtet, gibt es keinen so dringenden globalen Handlungsbedarf mehr. Selbst wenn die durch die Krankheit entstandene Notlage fortbesteht, »sehen« wir sie unter Umständen schlicht nicht mehr. Sie ist, wie es bei Douglas Adams heißt, ein Problem anderer Leute. Durch diesen Prozess verschiebt sich die Bedeutung von Krankheit. Polio galt vor der flächendeckenden Einführung von Impfstoffen als Kennzeichen für Zivilisation – zumal die Epidemien im Zusammenhang mit besseren sanitären Bedingungen zu stehen schienen –, hinterher für »Rückständigkeit«. Die Bedeutungen und Erfahrungen bestimmter Krankheiten können auf den verschiedenen Erdteilen sehr unterschiedlich ausfallen. Dort, wo man verhältnismäßig leicht Zugang zu einer antiretroviralen Therapie hat, kommt HIV/Aids beispielsweise einer gut kontrollierbaren chronischen Erkrankung nah, sodass diese Krise längst als vorüber gilt. Wo der Zugang zu diesen Therapien schwerer ist, sieht es anders aus – etwa weil es so viele Begleiterkrankungen wie Tuberkulose gibt. Es gibt bei diesen Prozessen gewisse Überschneidungen mit geografischen Mustern. Aber ich persönlich halte nicht viel davon, das mithilfe einer Unterteilung von globalem Süden und Norden zu analysieren. Solch ein binäres Bezugssystem verleitet dazu, Ungleichheiten innerhalb von Staaten und Gesellschaften zu übersehen und zugleich Ansichten und Praktiken zu festigen, gegen die wir uns im Idealfall positionieren.
DM | In der öffentlichen Auseinandersetzung scheint die Ansicht vorzuherrschen, dass Impfungen die Kardinallösung sind, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Bestätigen historische Erfahrungen das?
DV | Wir halten alle die Luft an und hoffen inständig auf ein baldiges Ende der Pandemie. Es gibt Grund zum Optimismus: Durch Impfungen sind wir bereits eine große Anzahl schwerer oder gar tödlicher Infektionskrankheiten losgeworden. Der materielle, politische und soziale Kontext einer Impfung ist allerdings untrennbar mit dem eigentlichen Inhalt der Ampulle verbunden: Kein wirkliches Szenario kann nachbilden, was im Labor oder bei einer kontrollierten Feldstudie geschieht. Nur weil es einen Impfstoff gibt, kann man ihn längst nicht ungehindert überall verbreiten. Die Ungleichheit bei der Verteilung von Impfstoffen hängt in jeder Gesellschaft von Privilegien und Vulnerabilitäten ab; von geografischen Distanzen und häufig auch den Möglichkeiten, eine Kühlkette aufrechtzuerhalten; von den finanziellen Möglichkeiten des jeweiligen Staates zur Beschaffung beziehungsweise Produktion von Impfstoffen; von den Gesundheitssystemen, die mit der Administration betraut sind; und schließlich von Infrastrukturen und wirtschaftlichen Strukturen auf der globalen Ebene. Auf den Übergang vom Labor zum freien Feld folgt also der Übergang von einem kulturellen und politischen Kontext zu einem anderen, was wiederum auf die Wirkungsweise der Impfung Einfluss nimmt. Das können wir derzeit gut beobachten.
Zahlreiche Krankheiten, die uns töten oder stark beeinträchtigen konnten, bestimmen aufgrund von Impfungen nicht mehr unseren Alltag: Diphtherie, Polio oder Pocken etwa. Letztere ist übrigens die einzige menschliche Krankheit, die komplett ausgerottet wurde. So etwas geschieht aber nicht von einem Moment auf den anderen. Als die Sowjetunion zerfiel und jegliches Vertrauen in den Staat zersetzt war, gingen die Impfraten in den Keller – perfekte Voraussetzungen für einen großen Diphtherieausbruch. Diese Krankheit war seit den 1960er Jahren aufgrund der erfolgreichen Impfungen eigentlich so gut wie verschwunden.
DM | Sind die derzeitige Rangelei um Impfstoffe und der damit einhergehende Impfstoff-Nationalismus ein neuartiges Phänomen? Inwiefern griffen koloniale und postkoloniale Kontinuitäten, geopolitische Allianzen und die Hierarchie der großen multinationalen Pharmaunternehmen in der Vergangenheit ineinander?
DV | Es kommt nicht zum ersten Mal vor, dass Impfungen politischen Zielen untergeordnet werden. Dafür gibt es den Begriff der »Impfdiplomatie«. Auf internationaler Ebene dienen Impfstoffe durchaus der politischen Einflussnahme. Wenn sich Engpässe bei medizinischen Technologien auftun, offenbaren sich in den globalen Verteilungssystemen fest verankerte Ungleichheiten beim Zugang zu Infrastrukturen und Ressourcen. Das ist eine Folge komplexer historischer Prozesse. Andererseits sind Vakzine, aus historischer Sicht, ziemlich neuartig, sieht man einmal vom Pockenimpfstoff ab, der bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt wurde. Erst ab dem 20. Jahrhundert nahmen Impfungen flächendeckend großen Einfluss auf die Gesundheit. Diese relativ neuen Technologien wurden dann zur Entwicklung, Produktion, Verteilung und Verwendung in bestehende, sich ständig ändernde Kontexte eingebunden.
Es kommt aber auch ganz auf die Perspektive an, aus der die politischen Implikationen der Impfstoffverteilung betrachtet werden. Und darauf, was uns hierbei unwesentlich erscheint – hauptsächlich nämlich das, was sich in der sogenannten Peripherie abspielt. Kuba hat bei der Entwicklung und Testung von Impfstoffen mit dem Iran zusammengearbeitet, chinesische und russische Vakzine wurden in Lateinamerika großflächig angenommen, Indien wandte einen großen Teil seiner pharmazeutischen Kapazitäten für die Produktion von Impfstoffen für den Rest der Welt auf. Aber Süd-Süd-Kooperationen und nichtwestliche Akteure spielen in der Medizintechnologie schon lange eine Rolle. Was sich über die Jahre verändert hat, ist ihre Bedeutung. Während des Kalten Kriegs spielte die medizinische Produktion eine Rolle, die Mobilität medizinischen Wissens und Technologien trugen zur Festigung der Bindungen in der sozialistischen Welt bei. Und auch zwischen sogenannten Zweite-Welt-Staaten beziehungsweise jenen der Zweiten und der Dritten Welt: etwa wenn es um die ungarische Beteiligung an nordkoreanischen Krankenhäusern ging oder um jugoslawische Arzneimittel in Argentinien, tschechoslowakische Virologen in Kuba, kubanische Ärztinnen in Angola und so fort.
DM | In deiner Forschung geht es um die Erfolge der »realsozialistischen« Staaten bei der Bekämpfung von Polio. Ist ein gewisser Voluntarismus typisch für »rote« Epidemiepolitik? Anders gefragt: Gibt es einen spezifisch sozialistischen Umgang mit Epidemien?
DV | Es stellt sich die Frage, ob diese Erfolge allein der autoritären Regierungsform geschuldet waren, und wie sehr die sozialistischen Prinzipien und Praktiken in Bezug auf das Gesundheitswesen da hineingespielt haben. Die Antwort ist vermutlich eine Kombination aus beidem: Der hohe Stellenwert, den die Krankheitsprävention innehatte, und das Ziel eines universellen Zugangs zum Gesundheitswesen, mit einem großen Netzwerk von epidemiologischen Stationen und Gesundheitsinstitutionen, stützten die sozialistische Idee einer stark von oben nach unten gerichteten, zentralisierten Organisation der Gesundheitsdienste und -politiken sowie des Bevölkerungsmanagements. Auf der einen Seite gab es also autoritäre Strukturen, die übrigens oft ineffizienter waren, als man annehmen würde. Im Gesundheitswesen wurde viel diskutiert über diesen Widerstreit zwischen den großen Erfolgen autoritärer Epidemiebekämpfung und der problematischen, ungustiösen Natur genau dieser Maßnahmen. Ich würde jedoch argumentieren, dass autoritäre Maßnahmen alleine nicht ausreichten – die breite, vertikale Anwendung von Impfstoffen fiel mit einer horizontalen Infrastruktur zusammen und stützte sich bei den Impfaktionen auf staatlichen Paternalismus und Solidaritätsvorstellungen.
DM | In Bezug auf Sputnik V herrschen in der hiesigen Presse fast ausschließlich Zweifel und Skepsis. Es wäre kaum überraschend, wenn sich die Menschen hierzulande, sollte Sputnik V im deutschsprachigen Raum einmal zur Verfügung stehen, vehement gegen dieses Vakzin sträubten. In anderen Ländern, etwa Argentinien, schaut es ganz anders aus. Würdest du dich mit Sputnik V impfen lassen?
DV | Vakzine waren schon immer sehr politische Technologien. Es setzt nämlich ein hohes Vertrauen voraus, sich selbst oder seinen Kindern einen derart komplizierten, potenziell riskanten Stoff verabreichen zu lassen. Einige sowjetische Virologen hegten in den 1950er Jahren großes Misstrauen gegenüber der in amerikanisch-sowjetischer Zusammenarbeit entwickelten und in der Sowjetunion getesteten Sabin-Polioimpfung, weil sie einen amerikanischen Angriff auf die sowjetische Bevölkerung fürchteten. Dem rein auf amerikanischem Boden getesteten Salk-Vakzin wurde hingegen bedingungslos vertraut. Derweil zweifelten einige amerikanische Virologen am Sabin-Impfstoff, weil er in sowjetischer Zusammenarbeit hergestellt wurde; sie vertrauten der Wissenschaft und den Resultaten nicht. Schließlich stellte eine Kommission der WHO fest, dass die sowjetischen Studien genau deshalb vertrauenswürdig waren, weil sie sowjetisch waren: Das autoritäre politische System und das zugehörige Gesundheitswesen boten ideale Bedingungen für solche Studien. Aber auch die Anwendung der Impfung unterlag politischen Einflüssen. Die sozialistischen Staaten haben sie rascher eingeführt, wobei die Tschechoslowakei, Ungarn und die Sowjetunion als erste nationale Kampagnen starteten. Übrigens hat Kuba Polio zuerst besiegt. Das Sabin-Vakzin kommt bis heute weltweit im Programm zur Bekämpfung von Polio zum Einsatz.
Genau wie in Westeuropa gibt es in Russland, China und anderswo großartige Errungenschaften und Wissenschafterinnen – und höchstwahrscheinlich auch einige miese. Das Ursprungsland eines medizinischen Produkts sagt nichts darüber aus, wie sicher und brauchbar es ist. Wir neigen dazu, nationale Stereotype in unser Urteil einfließen zu lassen, statt Beweise einzuholen.
Um deine Frage zu beantworten, für mich sind zwei Dinge ausschlaggebend: Transparenz und Verfahrensweise. Meine Kenntnisse der Virologie und der pharmazeutischen Produktion reichen nicht aus, um fundierte Entscheidungen zu treffen. Daher vertraue ich auf das etablierte Verfahren der Lizenzierung und Autorisierung. Wenn die britischen oder europäischen Agenturen Zugang zu verlässlichen Daten haben und auf dieser Grundlage transparente Entscheidungen treffen, bin ich gern bereit, mich damit impfen zu lassen.
Dora Vargha unterrichtet Medizingeschichte an der University of Exeter. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Epidemien in den früheren »realsozialistischen« Ländern. Zuletzt erschien von ihr Polio across the Iron Curtain: Hungary’s Cold War with an Epidemic (Cambridge University Press, 2018).
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