Im Freibad in der Schlange für Eis anstehen, an warmen Sommerabenden auf dem Karlsplatz Bier aus der Dose trinken, in Theater, Kino und Kaffeehaus Freundinnen treffen, alte Bekannte besuchen. Die Normalität, nach der wir uns nach anderthalb Jahren Pandemie sehnen, verheißt Frohsinn und Freiheit. Ein selbstverständlicher Alltag, der nicht erklärt werden muss, für den wir uns nicht rechtfertigen müssen, der Sicherheit vermittelt.

Doch kaum kann der öffentliche Raum wieder wie einst genutzt werden und haben wir sie wieder, die lang ersehnte Normalität, erwachen in den Städten alte Diskussionen: Wer darf was, wo und wie? In Wien sind es Orte wie der Karlsplatz und der Donaukanal, an denen sich der Kampf um den öffentlichen Raum entfacht. Ein zweifellos politischer Kampf. Monatelang ließ die Wiener Polizei rechtsextreme Corona-Leugnerinnen auf ihren gewaltvollen Demonstrationen gewähren. Von aggressiven Einsätzen bei Corona-Partys im Lokal eines ÖVP-nahen Szenegastronomen ist auch nichts überliefert. Dafür drangsalierte die Wiener Polizei feiernde Jugendliche und Dosenbierverkäufer ohne Konzession. Ganz so neu sind freilich weder der Streit um Karlsplatz und Donaukanal noch die Formen seiner Austragung, wie Anton Tantner schreibt. Der Historiker zeichnet präzise nach, in welchem Maß der Donaukanal schon seit Jahrhunderten umkämpftes Terrain ist.

Mit dem Sommer stellt sich auch eine andere Normalität wieder ein. Wenn es wärmer wird und die Wogen des Mittelmeeres sich glätten, machen sich wie jedes Jahr vermehrt Menschen auf den Weg nach Europa. Auf der Flucht vor Gewalt, Verfolgung, Krieg, auf der Suche nach einem besseren Leben. Für europäische Gesellschaften ist es fast zur Selbstverständlichkeit geworden, dass diese Menschen daran gehindert werden, überhaupt anzukommen, ihr Recht, einen Asylantrag zu stellen, mit allen Mitteln verhindert wird. Die Brutalität an den Grenzen ist zur medialen Randnotiz geworden. Jene Organisationen, die das Unrecht des europäischen Grenzregimes nicht akzeptieren wollen und Menschenleben auf See retten, werden kriminalisiert. Das Budget der EU-Agentur Frontex, die seit Jahren bei ihren Einsätzen an den EU-Außengrenzen Menschenrechte verletzt, wird erhöht. Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüche sind Alltag in der Festung Europa. Welche Rolle Österreich dabei spielt, lesen Sie in unserer Titelgeschichte. Die Grenzpolizei steht im Verdacht, in der Südsteiermark illegale Pushbacks durchgeführt zu haben. Auch das ist eine Normalität, zu der wir im Sommer 2021 zurückkehren.

Nicht zuletzt können Sie in dieser Ausgabe über Menschen lesen, die sich weigern, in der konstruierten Normalität zu verweilen. Wie heteronormative Standards queeres Leben in postsowjetischen Staaten mitbestimmen, berichtet Norma Schneider. Sie stellt Künstler:innen vor, die in ihren Werken queere Lebenswelten behandeln. Wer über gesellschaftliche Missstände in postsowjetischen Staaten diskutiert, läuft Gefahr, Ressentiments zu schüren und alte Konflikte heraufzubeschwören. Doch die Kunstprojekte aus der Ukraine und Kirgistan bedienen keine Klischees – sie zeigen ein ganzes Spektrum von Menschen, die sich nicht in die strikten Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit zwängen lassen, sondern sich als nichtbinär, trans oder genderfluid identifizieren. Diese Menschen brechen bisweilen unhinterfragte gesellschaftliche Narrative auf. Was ist sie also, diese Normalität, nach der wir uns so lange gesehnt haben – und wollen wir sie überhaupt? Kommen Sie gut durch den Sommer!

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