Schamlose Rechte, nostalgische Liberale
von Benjamin Opratko
EUR 29,80 (AT), EUR 29,80 (DE), CHF 41,50 (CH)
Im Jahr 2015 veröffentlichte die Linguistin und Grande Dame der kritischen Diskursforschung Ruth Wodak Politics of Fear, ein Buch über Diskursstrategien und rhetorische Taktiken rechtspopulistischer Politiker. Ein Jahr später, im Jahr des Brexit und der Trump-Wahl, erschien das Buch in deutscher Übersetzung als Politik mit der Angst; nun liegt eine komplett überarbeitete und ergänzte Neuauflage vor. Was sich in den fünf Jahren verändert hat, zeigt der Untertitel an: Aus dem nüchternen Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse wurde Die schamlose Normalisierung rechtsextremer und rechtspopulistischer Diskurse.
Normalisierung heißt hier, dass traditionelle Volksparteien rhetorische Figuren und inhaltliche Positionen des Rechtspopulismus übernehmen. In zahlreichen Beispielen zeigt Wodak, wie Diskurselemente vom rechten Rand in die Mitte gewandert sind. Österreich liefert dafür besonders reichhaltiges Anschauungsmaterial.
Während die Normalisierung das gesamte politische Spektrum nach rechts verschiebt, radikalisiere sich der rechtspopulistische Pol und werde »schamlos«: Er hält sich nicht länger an Regeln und Konventionen, verweigert den Dialog und schafft eigene (Medien-)Realitäten. Diese Strategie habe nicht nur verheerende Folgen für die Debattenkultur, sie untergrabe auch systematisch die demokratischen Institutionen selbst. Das Ergebnis seien illiberale, autoritäre Regime wie in Ungarn. Das Verhalten der Kurz-ÖVP in der jüngsten Regierungskrise kann und sollte vor diesem Hintergrund gelesen werden: Attacken auf die Justiz, Manipulation der Medien, skrupellose Korruption sind Kernelemente einer »neuen Normalität« des Rechtspopulismus. Die im Buch versammelten Detailanalysen von Reden rechtspopulistischer Politiker aus ganz Europa fordern die Leserinnen geradezu dazu auf, die Auftritte von Kurz und Co. auf gleiche Weise zu durchleuchten. Alleine dafür schon lohnt die Lektüre.
Die Betonung der Schamlosigkeit in der Neuauflage des Buches wirft indes Fragen auf. Waren Rechtspopulisten früher etwa verschämter? Welche Funktion erfüllt der Begriff der Scham in diesem Argument? In der Psychoanalyse gilt Scham als Affekt, der ein unerträgliches Empfinden von Schwäche maskiert. »Sich seiner zu schämen«, so der linke Freud-Schüler Otto Fenichel, »bedeutet, nicht gesehen werden zu wollen.« Wann sollen Rechtspopulisten denn jemals in dieser Rolle gewesen sein? War nicht schon zu Jörg Haiders Zeiten der kalkulierte Tabubruch, die Projektion von Stärke und die »schamlose« Grenzüberschreitung Kennzeichen rechtspopulistischer Politik? Als Beschreibung eines historischen Wandels überzeugt der Begriff (anders als jener der Normalisierung) nicht. Er hat aber auch eine andere, politische Funktion. Schamlosigkeit wurde oft, etwa bei Norbert Elias, vermeintlich rückständigen und unzivilisierten Kulturen übertragen. So weit geht Wodak nicht, doch ihre Betonung der Schamlosigkeit dient auch dazu, eine mythische Welt des »vernünftigen Dialogs«, »vereinbarter Normen« und »etablierter Konventionen«, in der man sich für Tabubrüche noch geschämt habe, zu konstruieren. Wodaks liberaler Antipopulismus ist im Kern nostalgisch, wünscht sich zurück in eine vermeintlich zivilisierte Zeit des »europäischen Konsens[es] der Nachkriegszeit« – und verfehlt damit ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Krisen, die den Rechtspopulismus für große Bevölkerungsteile plausibel und attraktiv machen.
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