Das letzte Schmuckstück, das sie dem Pfandleiher auf den Tresen legt, ist ein Armband aus Weißgold. Er schätzt den Wert und reicht ihr einen Pfandschein. Wenn die Hilfe vom Amt endlich kommt, will Anita Novácová das Armband wieder auslösen. Aber jetzt braucht sie das Geld, es soll für die nächsten Wochen reichen. Für die Rezeptgebühren und Medikamente ihrer Tochter, für die Miete ihrer Wohnung, für Essen und Kleidung.
Als Anita Novácová im Herbst 2020 das erste Mal in das Büro von Sozialarbeiterin Simone Müller kam, um Mindestsicherung zu beantragen, hatte sie wie viele andere plötzlich keine Einnahmen mehr. Wegen der CoronaHygienemaßnahmen durfte sie ihre selbstständige Arbeit zeitweise nicht mehr ausüben – ihr Beruf galt als körpernahe Dienstleistung, so erlebten es etwa auch Tätowiererinnen, Friseure oder Masseurinnen. Dass sie ihren genauen Beruf nicht genannt haben möchte, hat gute Gründe: Novácová und ihre Sozialarbeiterin Müller möchten in diesem Artikel anonym bleiben, weil sie Angst haben, bei den Behörden negativ aufzufallen. Ihre Namen und alle biografischen Details, die direkt auf sie zurückführen könnten, wurden deshalb geändert.
Aus dem Corona-Hilfspaket bekam Novácová für die Monate, als sie nicht arbeiten durfte, je 1.000 Euro für Miete, Strom- und Gasrechnungen, Betriebskosten sowie Einkäufe des täglichen Bedarfs. Das Geld reichte kaum zum Leben für sie und ihre minderjährige Tochter. Ihr Erspartes: längst aufgebraucht. In den Monaten, in denen sie wieder öffnen durfte, bekam sie diese Hilfe nicht, aber das Geschäft wollte nicht mehr so richtig anlaufen. Es gab Tage, erzählt sie, da ernährte sie sich von einer Semmel, um ihrer Tochter eine warme Mahlzeit kaufen zu können.
In Wien beziehen 126.500 Personen die Mindestsicherung als Hilfe vom Staat. Weniger als die Hälfte von ihnen ist ohne Arbeit. Die anderen haben einen Job, doch ihr Lohn reicht nicht, um über die Armutsgrenze zu kommen. Zuständig für die Mindestsicherung ist die MA 40, jene Abteilung des Magistrats, die helfen soll, wenn Menschen in finanzielle Not geraten. Viele bräuchten die Unterstützung dringend, aber gehen leer aus, weil die Hürden zu hoch sind. Andere wiederum, wie Anita Novácová, erreicht die Hilfe zu spät. Über ein halbes Jahr dauerte es, bis Novácová die erste Auszahlung erhielt. In dieser Zeit rang sie nicht nur um Geld, sondern auch um ihre Würde, ihre psychische Gesundheit und darum, Teil dieser Gesellschaft zu sein.
Während sie auf die Zusage des Amtes wartete, ging Novácová immer wieder zum Pfandleiher, gab ihren letzten Besitz, Schmuckstücke ihrer Familie, um über die Runden zu kommen. Mit jedem Stück, das sie verkaufte, verlor sie Hoffnung. Und die wich der Angst. Angst, bald die Wohnung zu verlieren und ihrer Tochter die notwendigen Medikamente nicht mehr kaufen zu können. Dabei ging es nie um große Summen. Es ging um höchstens 1.241 Euro pro Monat. 977 Euro für sie. 264 Euro für ihre Tochter. So viel steht ihnen in Österreich zu, »zur Sicherung des grundlegenden Lebensunterhalts«.
Simone Müller sitzt auf ihrem Bürostuhl und rollt auf dem Linoleumboden hin und her, um Novácovás Akten aus den Büroschränken zu sammeln. Über ein halbes Jahr lang kämpften sie zusammen dafür, dass der österreichische Staat ihr die finanzielle Hilfe zuspricht, die ihr rechtlich zusteht. Am Ende sollte ein Gericht entscheiden. Auf dem hellen Holzschreibtisch stapeln sich die Unterlagen, mehr als 30 Seiten in kompliziertem Behördendeutsch. Anträge, Bescheide, Nachforderungen. Nur wenige davon in andere Sprachen übersetzt oder in Leichter Sprache verfasst. Ohne die Hilfe der Sozialarbeiterin hätte Novácová, die sich gut auf Deutsch verständigen kann und schon seit vielen Jahren in Österreich lebt, die Anträge nicht bearbeiten können.
Zwei Wochen nach ihrem ersten Antrag bekam Frau Novácová einen Brief. Es fehle an Unterlagen, den Kontoauszügen der letzten sechs Monate, einer Bestätigung ihres Aufenthaltsstatus in Österreich, Einkommensteuererklärungen. Die waren leicht zu beschaffen. Aber weil die Mindestsicherung eine subsidiäre Leistung ist, bekommt sie nur, wer nachweisen kann, dass es keine anderen Möglichkeiten mehr gibt, an Geld zu kommen. Deshalb sollte sie zusätzlich auch noch eine beglaubigte und übersetzte Scheidungsurkunde beilegen und eine Bestätigung, dass ihr Ex-Mann keinen Unterhalt zahlt. Jedoch: Novácová hat ihr Kind alleine großgezogen und seit Jahren keinen Kontakt zum Vater. Sorgen bereitete ihr auch das ärztliche Gutachten über die psychische Krankheit ihrer Tochter. Ein tiefer Einschnitt in die Privatsphäre, diesmal nicht nur in ihre, sondern auch in die des Kindes. Könnte es ihrer Tochter die Zukunft verbauen, wenn ihre Erkrankung aktenkundig wäre? Novácová hatte Angst.
Im ersten Lockdown verschlechterte sich die Lebenssituation von Müllers Klientinnen drastisch. Und damit auch ihre eigene: Während andere in Kurzarbeit gingen, verlängerten sich ihre Arbeitstage, die Überstunden häuften sich: »Ich habe bis zu zehn Stunden durchtelefoniert.« Wenn sie ihr Diensthandy abends um 19 Uhr ausschaltete, wusste sie: Am nächsten Morgen sieht sie als Erstes die verpassten Anrufe.
Die letzten Monate haben Müller zur Pragmatikerin werden lassen. Mittlerweile ist sie überzeugt: »Man kann den Menschen helfen, ihre Rechte wahrzunehmen. Aber der Rechtsstaat funktioniert nur, wenn beide Seiten mitspielen.« Viele ihrer Klientinnen hätten keine einwandfreien Lebensläufe, Lücken in den Papieren, unsichere Wohnsituationen, psychische Probleme – das mache einen Antrag oft schwierig bis unmöglich. Aber sollte ein System, das jenen helfen soll, die nichts mehr haben, nicht auch an ihre Bedürfnisse angepasst sein? »Die Unterlagennachforderungen waren teilweise so kompliziert, dass nicht mal wir uns ausgekannt haben«, sagt Müller. »Eine Einzelperson schafft das sowieso nicht.«
Frühling in Wien, März 2021. Seit dem ersten Antrag sind fünf Monate vergangen. Novácová sitzt in Müllers Büro und weint. Am Tag zuvor konnte sie die Tabletten für ihre Tochter nicht zahlen, ist einfach ohne sie wieder aus der Apotheke gegangen. Wer Mindestsicherung beantragt, braucht diese sofort. Um Essen zu kaufen, Medikamente, Zahnpasta und Miete zu bezahlen. Der Pfandleiher hat dem Staat eines voraus: Er ist schnell. Denn die meisten Beschwerden bezüglich der Mindestsicherung bekommt die Volksanwaltschaft wegen zu langer Verfahrensdauer. In der Covid-19-Krise häuften sich die Anträge bei der MA 40. In einem Bericht der Volksanwaltschaft an den Wiener Landtag 2020 heißt es: »Es kann nicht oft genug gesagt werden, dass Menschen, die zur Bestreitung ihrer täglichen Bedürfnisse auf finanzielle Hilfe angewiesen sind, unmöglich monatelang warten können, bis über ihre Anträge entschieden wird.«
»Wählt man die Nummer der MA 40, landet man im Callcenter der Firma Vienna Communications. Rund 629.000 Anrufe erhielt man hier im vergangenen Jahr, weniger als die Hälfte davon wurden zu den Mitarbeiterinnen der Behörde weitergeleitet. Dabei ist schon die Hürde, die Nummer zu wählen, hoch. Rund ein Drittel nimmt den Anspruch auf Mindestsicherung gar nicht erst wahr. Im Fachjargon nennt man das die ›Non-Take-up-Rate‹.«
Bernhard Achitz ist als Volksanwalt zuständig für Soziales, Pflege und Gesundheit. Er betont, dass die MA 40 gute Arbeit leiste, die Anzahl der Beschwerden bei ihm gering seien, gemessen an der Vielzahl der Anträge. Problematisch sei aber, dass viele Menschen sich gar nicht erst an die Volksanwaltschaft wenden. Denn auch dieser Gang sei mit Hürden verbunden, viele Beratungen würden zudem nur auf Deutsch angeboten. Damit gehe auch ihr Angebot oft an jenen vorbei, die Hilfe brauchen.
Ausgefüllte Anträge landen auf den Schreibtischen der Mitarbeiterinnen von Elisabeth Paschinger. Sie leitet die Servicestelle der MA 40 am Thomas-Klestil-Platz im dritten Wiener Bezirk. Auch sie sieht das Problem, dass die Bescheide ihrer Behörde schwer zu verstehen sind: »Ich mag nicht daran denken, was da alles drinsteht, was keiner versteht.« Aber sie sieht die Verantwortung, den Prozess einfacher zu gestalten, nicht bei ihrer Behörde, sondern bei der Politik und den Rechnungshöfen, die eine solch genaue Prüfung der Unterlagen verlangen. Sie sagt: »Sonst kriegen wir einen auf den Deckel, wir sind nun mal dem Steuerzahler verpflichtet.«
Wählt man die Nummer der MA 40, landet man im Callcenter der Firma Vienna Communications. Rund 629.000 Anrufe erhielt man hier im vergangenen Jahr, weniger als die Hälfte davon wurden zu den Mitarbeiterinnen der Behörde weitergeleitet. Dabei ist schon die Hürde, die Nummer zu wählen, hoch. Rund ein Drittel nimmt den Anspruch auf Mindestsicherung gar nicht erst wahr. Das zeigte eine quantitative Studie des European Centre for Social Welfare Policy and Research der Vereinten Nationen. Im Fachjargon nennt man das die »Non-take-up-Rate«.
Diese Menschen sind die Unsichtbaren im Sozialsystem. Beispielsweise Personen aus Akademiker-Haushalten, die zwischen zwei Jobs nicht zum Amt gehen können. Andere wissen nicht, dass sie ein Recht auf Unterstützung hätten. Wieder andere schämen sich zu sehr. Am Land ist die Quote der Nichtinanspruchnahme noch höher, vermutlich wegen der geringeren Anonymität. »Man misst die Qualität einer Leistung daran, wie sie ihre Zielgruppe erreicht. Ein Drittel erreicht sie nicht«, sagt Tamara Premrov, Ökonomin und Mitautorin der Studie: »Gibt man sich damit zufrieden?«
Dass auch im sozialen Bereich Gelder reguliert und sorgfältig verteilt werden, ist sinnvoll. Immerhin machte die Summe der Sozialleistungen, die Sozialquote, in den letzten Jahrzehnten knapp 30 Prozent der Wirtschaftsleistung Österreichs aus. Allerdings fließt weniger als ein Prozent davon in die Mindestsicherung. Im ersten Corona-Jahr 2020 stieg die Quote auf einen historischen Höchststand von über einem Drittel. Damit steht der österreichische Sozialstaat im europäischen Vergleich gut da. Mehr kosten lassen ihn sich nur fünf Staaten: Dänemark, Finnland, die Niederlande, Frankreich und Belgien. Aber wie sozial kann ein Sozialstaat sein, wenn fast ein Drittel der Anspruchsberechtigten im Prozess aufgeben oder die Mindestsicherung gar nicht erst als Option betrachten? »Eine der größten Herausforderungen ist es, dass viele Leute erstmal in die Lage versetzt werden müssen, sich um ihre materiellen Ansprüche auch kümmern zu können«, sagt auch Paschinger. Man sei in dieser Sache gut vernetzt mit den helfenden NGOs. Sozialarbeiterin Müller sieht jedoch zu wenig Bemühungen des Amtes: »Die Hürden sind hoch und Fristen werden oft bis zum Ende ausgereizt, manchmal auch überzogen.«
Im Januar 2021, drei Monate nach ihrem ersten Antrag, erhielt Frau Novácová eine Absage. Sie erfülle nicht alle Anforderungen, steht in dem Bescheid. Müller notierte: »Aufgrund der aktuellen Gesamtsituation zeichnet sich bei Frau N. eine akute Überlastung und Überforderung ab. Verzweiflung, Traurigkeit und Panik sind verstärkt wahrnehmbar.«
Novácová und Sozialarbeiterin Müller beschlossen gemeinsam eine Beschwerde gegen den negativen Bescheid der Stadt Wien einzulegen. Insgesamt 2.933 Personen legten im vergangenen Jahr dieses Rechtsmittel ein. »Dieser Schritt kostet den meisten zu viel Kraft und Nerven. Viele geben davor auf, weil sie einfach nicht mehr können«, sagt Sozialarbeiterin Müller. Ohne die Bekräftigung von Frau Müller wäre Novácová diesen Schritt nicht gegangen, sagt sie. »Die Stadt zu verklagen und gleichzeitig von ihr abhängig zu sein, das macht Betroffenen oft zu viel Angst.« Viele würden sich eher verschulden und in weitere Schwierigkeiten geraten.
Wer arm ist, hat ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken. »Für Betroffene bedeutet Armut eine finanzielle Notlage, die oft mit Dauerstress verbunden ist. In der Folge treten Selbstwertkrisen und sozialer Rückzug sowie auch psychische Erkrankungen auf«, sagt Peter Falkai, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie. Daten der Statistik Austria zeigen: Über die Hälfte der Mindestsicherungsbezieher leidet unter chronischen Krankheiten. Menschen in Not haben oft keine Kraft mehr, Hürden zu überwinden. Gerade für sie sollte die Hilfe so einfach und zugänglich wie möglich sein, sagt Müller. Das schaffe das System der Mindestsicherung aber nicht, im Gegenteil: »Den Menschen werden immer wieder Hürden in den Weg gelegt, der Prozess verlängert sich so, dass viele aufgeben.«
Sechs Monate, nachdem Frau Novácová das erste Mal in Müllers Büro gewesen ist, treffen sie sich in einem kargen Verhandlungssaal eines Wiener Verwaltungsgerichts wieder. Novácová sieht müde aus, die letzten Monate haben Spuren hinterlassen. Müller ist zu ihrer Unterstützung gekommen. Die Behörde bringt keine Argumente für den negativen Bescheid vor, stattdessen zieht sie noch vor der Verhandlung die Ablehnung von Frau Novácovás Bescheid zurück. Der Fall scheint dem Richter wenig Platz für Zweifel zu lassen. Novácová steht die Mindestsicherung rechtlich zu. Sie soll sie bekommen. Von dem Geld, das ihr für die letzten Monate ausgezahlt wird, wird sie erstmal Schulden bei Bekannten zurückzahlen. Und das Goldarmband auslösen – für mehr Geld, als sie damals dafür bekommen hat.
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