Klickarbeiter in Aktion
von Norma Schneider
EUR 22,70 (AT), EUR 22,00 (DE), CHF 30,90 (CH)
Tiff ist Klickarbeiterin. Jeden Abend loggt sie sich auf der Plattform »Automa« ein, um für einen Hungerlohn Bildbeschreibungen zu erstellen und Videoclips zu sortieren. Eine reguläre Arbeit kann Tiff nicht mehr ausüben. Sie wird von Angstzuständen und Panikattacken geplagt, seit sie als Content-Moderatorin für soziale Netzwerke gearbeitet hat. Zuerst musste sie nur Bilder nackter Brüste aussortieren. Als nach der Einarbeitung die ersten Gewaltdarstellungen auf ihrem Bildschirm landeten, dachte sie noch, dass das so schlimm schon nicht werden wird. Jetzt schafft Tiff es kaum noch, das Haus zu verlassen.
Berit Glanz hat sich in ihrem neuen Roman Automaton der Schattenseiten der Digitalisierung angenommen, dem, was im Hintergrund der täglich genutzten Anwendungen geschieht und was für die meisten Userinnen unsichtbar bleibt. Schaut man genauer hin, kommen nicht nur ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zum Vorschein, sondern auch eine künstliche Intelligenz, die längst nicht so elaboriert – und nicht so künstlich – ist, wie man meinen könnte. Es sind moderne Tagelöhnerinnen wie Tiff, die die Algorithmen füttern und trainieren sowie manuell jene Arbeit machen, die scheinbar eine automatisierte KI erledigt.
Aber Automaton läuft keinesfalls auf eine pauschale Verteufelung des Internets und digitaler Technologien hinaus, sondern erzählt auch von der anderen Seite: Solidarität und Gemeinschaft, die aus digitaler Vernetzung entstehen. Tiff ist Userin in einem unabhängigen Forum, das die Klickarbeiter gegründet haben, um sich auszutauschen. Dort warnen sie einander vor besonders ausbeuterischen Jobangeboten, geben sich Tipps, wie man die Plattform austricksen kann, und stehen füreinander ein.
Auch der neueste Arbeitsauftrag auf »Automa« wird umfassend diskutiert: Videoaufnahmen von Überwachungskameras anschauen und notieren, wann jemand durchs Bild geht oder etwas anderes passiert. Die Automatons, wie sie sich nennen, sind sich im Forum einig: Diese Arbeit ist zwar langweilig, aber immerhin etwas besser bezahlt als andere Aufträge. Tiff bekommt immer wieder Aufnahmen von einem geschlossenen Rolltor zu sehen, vor dem oft ein Obdachloser sitzt und seinem Hund aus Büchern vorliest. Tiff schließt den Mann, den sie Mr. Beard nennt, ins Herz. Als er eines Tages plötzlich verschwindet und nur sein Hund verstört durchs Bild läuft, vermuten die Automatons, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.
Ohne groß darüber nachzudenken, organisieren sie über tausende Kilometer hinweg eine Such- und Hilfsaktion für jemanden, den sie noch nie persönlich getroffen haben und der gar nicht weiß, dass sich Menschen auf einem anderen Kontinent um ihn sorgen. Die Automatons eignen sich für ihre Aktion die Infrastruktur der Plattform an und verwenden sie zur Abwechslung für eine gute Sache.
Automaton ist ein Roman darüber, wie viel man online bewegen kann, wie das Digitale über Grenzen hinweg verbindet – und auch darüber, dass es wohl nicht so schlecht ist, dass in vielen Fällen eben doch Menschen die Daten bearbeiten und keine Maschinen. Es ist kein Roman, der mit einer besonders ausgefeilten, literarischen Sprache beeindrucken würde, und ab einem gewissen Punkt ist er ziemlich vorhersehbar. Aber er überzeugt, weil er die guten und die katastrophalen Aspekte der Digitalisierung aufzeigt – und dabei zur Abwechslung das Gute gewinnen lässt, im Kleinen zumindest. Es sind wohl hoffnungsvolle Geschichten wie diese, die wir gerade dringend brauchen.
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