Die Enge des Raums

von Samuel Stuhlpfarrer

Über eine späte Freundschaft, den Vorwurf des Antisemitismus und einen Podcast, den es nicht geben wird.


1495 wörter
~6 minuten

Einer der wichtigeren Gründe dafür, dass diese Zeitschrift den Namen TAGEBUCH trägt, hat seinen Ursprung in meiner späten Freundschaft mit Max Schneider. Max, 1921 in Wien geboren, durchlief eine für Linke in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts klassische politische Sozialisation. Als Jugendlicher aus einer ärmlichen jüdischen Familie trat er früh den Roten Falken bei, zwei Jahre nach der austrofaschistischen Machtergreifung dem Kommunistischen Jugendverband. 1938 gelangte er mithilfe der linkszionistischen Organisation Hashomer Hazir, der er selbst und seine spätere Frau Ruth angehörten, als Landarbeiter ins englische Exil. Maxʼ Eltern und sein jüngerer Bruder sollten den nationalsozialistischen Terror nicht überleben. 

Von 1943 an kämpfte Max auf Seiten Englands gegen Hitlerdeutschland. Eine schwere Verwundung, die er sich unmittelbar vor Kriegsende zuzog, verzögerte seine Rückkehr ins befreite Wien bis ins Jahr 1947. Mehr als 20 Jahre arbeitete er danach in unterschiedlichen Funktionen für die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ). Als die Parteiführung im Jahr 1969 ihre ursprüngliche Verurteilung des Einmarschs der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei zurücknahm, war Max eines jener 27 Mitglieder des ZK der KPÖ, die die Partei verließen und sich in der Folge rund um das Wiener Tagebuch versammelten (eine detaillierte Beschreibung dieses Milieus veröffentlichte Hazel Rosenstrauch in unserer N° 10/2020). 

Ich selbst lernte Max erst vier Jahrzehnte später kennen – und über ihn die früheren »Tagebücher«. Wenn mich also jemand danach fragt, warum wir uns auch dem Namen nach in diese Traditionslinie stellen wollten, dann lautet die kurze Antwort darauf: wegen Max.

Zu Maxʼ Geschichte gehört auch ein spezifisches Verständnis seiner eigenen Identität als Jude (die so spezifisch gar nicht war, schließlich steht sie für die überwiegende Mehrheit der jüdischen Kommunistinnen und Kommunisten jener Zeit). Max war im Exil zu einem noch überzeugteren Parteigänger geworden und trat aus Hashomer Hazir aus. Seine Aufnahme in den Hauptamtlichenapparat der KPÖ verdankte sich nicht zuletzt seinen antizionistischen Positionen. Bis zuletzt war er der Auffassung, dass sein »Jüdisch-Sein« ausschließlich eine religiöse Frage und für ihn als Atheisten damit belanglos sei (Max glaubte an die Zukunft und daran, 100 Jahre alt zu werden). Und nur wenige Wochen vor seinem Tod im Juni 2010 erklärte er mir seine antizionistische Position retrospektiv mit der Überzeugung, dass »die Juden in ihren jeweiligen Ländern für die Befreiung des Volkes kämpfen sollten«. 

Warum erzähle ich das? Diese und ähnliche Haltungen wären nach den heute selbst in einer kritischen Öffentlichkeit breit verankerten Vorstellungen davon, was Antisemitismus ist, nicht annähernd satisfaktionsfähig. 

Erst letzte Woche sorgte die Ankündigung eines TAGEBUCH-Polit-Podcasts auf Twitter für teils heftige Reaktionen. Festgemacht wurde die Kritik an zwei Personen: Nicole Schöndorfer und Kerem Schamberger, die den Podcast zusammen mit anderen hosten sollten, seien aufgrund ihrer Sympathien für die Sache der Palästinenser im Allgemeinen und die BDS-Kampagne im Besonderen des Antisemitismus verdächtig. Den beiden anderen Hosts, Lukas Oberndorfer und Natascha Strobl, unterstellte man, sie wollten sich im Rahmen des Formats wohl wahlweise zum »Antisemeeting« versammeln oder darüber beraten, wie man »linken Antisemitismus normalisieren« könne. Dem TAGEBUCH galt schließlich der Vorwurf, überhaupt »antisemitischer Agitation« eine Plattform bieten zu wollen. Es wird nicht weiter überraschen, dass wir das nicht beabsichtigt hatten. Der Podcast von Lukas Oberndorfer, Kerem Schamberger, Nicole Schöndorfer und Natascha Strobl sollte sich analytisch allen Herrschaftsverhältnissen (Klasse, race, Natur, Geschlecht) widmen und zugleich die Konturen einer solidarischen Zukunft zeichnen. Am Bedarf an einem solchen Format besteht für uns übrigens nach wie vor kein Zweifel.

Am dritten Tag des Shitstorms sagten wir den für gestern geplanten Launch ab. Schien es zunächst noch, als würden die vier Hosts beisammenbleiben können, zeigte sich am späten Donnerstagabend letzter Woche, dass der Druck auf Einzelne zu groß geworden war. Immerhin die Entscheidung, den Podcast gar nicht erst zu starten, wurde letzten Endes kollektiv getroffen und die auf unseren Kanälen in dieser Sache verbreitete Mitteilung gemeinsam formuliert. 

Festgehalten sei an dieser Stelle, dass weder die Redaktion noch die vier Hosts untereinander zu irgendeinem Zeitpunkt Druck ausgeübt haben, um den Rückzug Einzelner zu erzwingen. Ebenso wenig treffen Spekulationen zu, wonach die Zusammenarbeit mit den Vieren unsererseits beendet wurde – und zwar ungeachtet dessen, dass wir weder in allen Fragen mit ihnen einer Meinung sind noch jede einzelne ihrer Formulierungen teilen. Das TAGEBUCH ist eine aufmerksam moderierte Bühne für Auseinandersetzung, kein Speakersʼ Corner. Wofür wir bürgen, das ist die Integrität der von uns veröffentlichten Inhalte.

Die Aufregung um den Doch-nicht-Launch dieses Podcasts wirft die Frage nach der Deutungshoheit über den Begriff des Antisemitismus erneut auf (obwohl man meinen könnte, sie wäre nach fast drei Jahrzehnten innerlinker Debatte geklärt, sei es auch nur insofern, als Einigkeit darüber herrschte, worin man sich nicht einig werden kann).

Erst vorletztes Jahr hat Gerhard Hanloser einen in dieser Hinsicht beachtenswerten Sammelband herausgegeben (Linker Antisemitismus?, Mandelbaum, 2020). Darin unterzieht er historische antisemitische Narrative innerhalb der Linken (68er, RAF, etc.) einer kritischen Überprüfung, zeichnet aber auch nach, wie mit dem Vorwurf des (linken) Antisemitismus ein Instrument zur Delegitimierung ganz unterschiedlicher Haltungen und Bewegungen entstanden ist, dessen sich wahlweise linke Randgruppen, konservative Medien und bürgerliche Staatsapparate bedienen. 

Nicht zuletzt deshalb haben sich von Sommer 2020 bis zu ihrer Veröffentlichung im März 2021 über zweihundert Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus aller Welt um eine tragfähige und vor allem klare Antisemitismus-Definition bemüht. Im TAGEBUCH warb im Mai des Vorjahres der erst kürzlich verstorbene Politikwissenschafter John Bunzl – er gehörte neben Aleida Assmann, Omer Bartov, Wolfgang Benz, Eva Illouz und Hanno Loewy, um nur einige zu nennen, zu den Erstunterzeichnern – für diese Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JEA oder JDA). »Die JDA«, schrieb Bunzl damals, »eröffnet einen neuen Weg durch das Gestrüpp von Emotion und Propaganda in der Debatte darüber, was Antisemitismus ist. Sie besagt im Wesentlichen, dass sich Antisemitismus gegen Juden richtet, ›weil‹ sie Juden sind; das gilt für Individuen und für Kollektive. Kritik an Israel ist nicht ›an sich‹ antisemitisch, kann jedoch auch in antisemitischer Absicht erfolgen.« 

Zur Frage des Zionismus/Antizionismus heißt es in der JDA in Punkt 12: »Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen ›zwischen dem Fluss und dem Meer‹ volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.« Und zur BDS-Kampagne in Punkt 14: »Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.« 

Abgesehen vom TAGEBUCH wurde die JDA in österreichischen Medien nicht rezipiert. Der diskursive Raum, in dem über solche Fragen, über vielgestaltige jüdische Identitäten und ja, auch über gegenwärtige Ungerechtigkeiten inklusive jener, die sich in Israel/Palästina ereignen, gesprochen werden kann, bleibt hierzulande eng gesteckt. 

In Deutschland wird zumindest darüber gestritten. Hanno Hauenstein etwa etablierte in der Berliner Zeitung im letzten Jahr ein bemerkenswertes politisches Auseinandersetzungsfeuilleton (über die Katechismus-Debatte schrieb Berthold Molden in unserer N° 12-1/2022). Zuletzt erschien dort der offene Brief des die Documenta 2022 kuratierenden Kunstkollektivs ruangrupa zur erzwungenen Absage des Gesprächsforums »We need to talk«. Der Autor Fabian Wolff wiederum sorgte im Mai des Vorjahres mit seinem Essay »Nur in Deutschland« in der Zeit dafür, auch eine jüngere Generation linker Jüdinnen und Juden, die sich mit der Sache der Palästinenser solidarisch fühlen, sichtbar zu machen. Der deutschen Mehrheitsgesellschaft hielt Wolff damals vor, die »Erinnerung an die Judenverfolgung und den Holocaust […] längst nur noch als Verfügungsmasse [zu benutzen], mit der alles vom eigenen Rassismus bis hin zur Angst vor gerechterem Wohnraum gerechtfertigt werden kann«.

Es gehört zu den bedrückenderen Folgen der vorherrschenden Debattenkultur, dass sie – wie Wolff hier andeutet – auch vor der Unversehrtheit der Begriffe nicht Halt macht. Die seit mindestens zwei Jahrzehnten praktizierte instrumentelle Anwendung des Antisemitismus-Vorwurfs (die, soweit es die hiesige Mehrheitsgesellschaft betrifft, vielfach Hand in Hand mit der Externalisierung einer 1.500-jährigen Geschichte des christlichen Antisemitismus geht) hat nicht nur zur Demobilisierung so mancher Bewegung (sei es eine Wahl- oder eine soziale Bewegung) beigetragen, sondern auch die fortgesetzte Banalisierung des Begriffs selbst in Kauf genommen. 

Soweit es das TAGEBUCH betrifft, gilt das, was der Historiker Enzo Traverso vor rund zwei Jahren in dieser Zeitschrift formulierte: Der Kampf gegen den Antisemitismus ist »Teil der DNA« der Linken, er gehört »zu ihrem historischen, politischen und kulturellen Hintergrund«. Eine solche DNA verdient einen sorgsamen Umgang: Analyseschärfe und Geschichtsbewusstsein in der Benennung von Antisemitismus statt einer leichtfertigen Funktionalisierung der Vergangenheit für heutige politische Agenden. 

Dieser Beitrag erscheint in gekürzter und adaptierter Form in TAGEBUCH N° 6/2022.

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