Der neue kolumbianische Präsident Gustavo Petro besuchte Mitte Oktober Cauca. Das departamento im Südwesten Kolumbiens gehört nicht nur zu den ärmsten und gewalttätigsten des Landes. Es hat auch einen der höchsten Anteile afrokolumbianischer und indigener Bevölkerung. Vizepräsidentin Francia Márquez, der dieses Jahr ein rasanter politischer Aufstieg gelang, stammt aus der Region. Es verwunderte daher viele, dass sie Petro bei seinem Besuch nicht begleitete. Der Präsident erklärte: Aufgrund eines »nicht ganz so blödsinnigen« Dekrets von 2021, das die beiden vorher nicht gekannt hätten, könne Márquez nicht anwesend sein. Das Dekret »besagt, dass Präsident und Vizepräsidentin sich nicht am selben Ort aufhalten dürfen, weil sie dann beide gleichzeitig getötet werden könnten«, so Petro. Er räumte ein, dass Márquez aufgrund dieser Bestimmung in ihrer Führungsrolle geschwächt werden könnte.
Die Äußerungen beflügelten Gerüchte, wonach sich das Verhältnis zwischen Petro und Márquez nach ihrem Wahlsieg im Juni abgekühlt habe. Wenige Tage später hob die Regierung das Dekret auf. Petro und Márquez dürfen nun sowohl inner- als auch außerhalb des Landes gemeinsame Termine absolvieren.
Die Episode wirft zumindest die Frage auf, welche Rolle Francia Márquez in der ersten progressiven Regierung Kolumbiens spielen wird. Der Posten der Vizepräsidentin oder des Vizepräsidenten ist traditionell weniger mit Macht als mit Repräsentanz verbunden. Doch wird Márquez auch das neu entstehende Ministerium für Gleichstellung leiten, das sich um die Belange benachteiligter Bevölkerungsgruppen kümmern soll, also von Frauen, indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften, LGBTIQ, Bäuerinnen und Bauern oder in Armut lebenden Menschen.
In der Stichwahl am 19. Juni hatten sich Petro und Márquez mit 50,44 Prozent der Stimmen gegen den Rechtspopulisten Rodolfo Hernández durchgesetzt, der auf 47,31 Prozent kam. Mit gut 58 Prozent war die Wahlbeteiligung für kolumbianische Verhältnisse hoch. Die Angstkampagne der Rechten mit ihren mantrahaft wiederholten Warnungen, Kolumbien werde unter einer linken Regierung zu einem »zweiten Venezuela« werden, verfing nicht.
Hoffnung auf Wandel
Zum Wahlsieg dürfte nicht zuletzt Márquez’ Mobilisierungsfähigkeit in ärmeren Regionen – etwa in Cauca – beigetragen haben, in denen das Regierungsduo teilweise um die 80 Prozent der Stimmen holte. Bei den Vorwahlen des linken Wahlbündnisses »Historischer Pakt« im März dieses Jahres hatte Márquez hinter Petro einen starken zweiten Platz belegt. Dieser machte die afrokolumbianische Umweltaktivistin und Juristin anschließend zu seiner Vizepräsidentschaftskandidatin. Nicht nur für afrokolumbianische, sondern auch für indigene, kleinbäuerliche und ökologische Bewegungen verkörpert Francia Márquez die Hoffnung auf Wandel. Sie gilt als das Gesicht der »Niemande«, der historisch marginalisierten Bevölkerungsgruppen Kolumbiens. Dank ihr hielten die Themen Rassismus und Armut Einzug in den Wahlkampf. Und sie steht für kollektive Prozesse, wie es in ihrem Slogan »Ich bin, weil wir sind« zum Ausdruck kommt.
Mit ihrer Lebensgeschichte ergänzt sie den langjährigen Berufspolitiker Petro perfekt. Dieser war zunächst zwölf Jahre lang Mitglied der Guerilla M-19, die in den 1970er und 1980er Jahren aktiv war. Eine Führungsposition hatte der heute 62-Jährige jedoch nicht inne. Nach der Auflösung der Guerilla 1990 war er unter anderem Abgeordneter, Botschafter, Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá sowie Senator. Francia Márquez hingegen stammt aus einer afrokolumbianischen Gemeinde im Bezirk La Toma, die bereits seit 1636 besteht. Die Vorfahren der heutigen Bewohnerinnen und Bewohner wurden während der Kolonialzeit aus Afrika verschleppt. »In der Schule haben sie mir beigebracht, dass ich eine Nachfahrin von Sklaven sei«, erzählte die 41-Jährige, die häufig traditionelle afrikanische Kleidung trägt, beim Wahlkampfschluss im Mai. »Ich musste erst lernen, dass ich von freien Menschen abstamme, die versklavt wurden.« Im Bergland von Cauca wuchs Márquez in sehr einfachen Verhältnissen auf. Viele der afrokolumbianischen Bewohnerinnen und Bewohner der Region betreiben neben der Landwirtschaft handwerklichen Bergbau. Auch Márquez schürfte als Kind im Río Ovejas nach Gold und half beim Anbau von Nutzpflanzen mit. Sie arbeitete als Hausangestellte, wurde mit 16 schwanger und schaffte es dennoch, in Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens, Jus zu studieren, um sich auch juristisch gegen die Ungerechtigkeiten in ihrer Region zu wehren.
Der handwerkliche Bergbau in Cauca wurde mit der Zeit immer mehr durch die Ausweitung des illegalen Bergbaus bedroht; Wälder wurden abgeholzt und der Fluss durch Chemikalien wie Quecksilber vergiftet. Während der Präsidentschaften von Álvaro Uribe (2002 bis 2010) und Juán Manuel Santos (2010 bis 2018), der den Bergbau zu einer von fünf »Lokomotiven der Entwicklung« erklärte, nahmen die Konflikte deutlich zu. Die Regierungen vergaben zahlreiche Bergbaukonzessionen. Auf den Wunsch der Konzerne hin sollte der Río Ovejas für ein Staudammprojekt umgeleitet werden. Ein ähnliches Vorhaben scheiterte bereits in den 1990er Jahren, auch Márquez hatte sich als Jugendliche an den Protesten beteiligt. Den Menschen der Region hätte die Umleitung die Lebensgrundlage entzogen. Tausende wurden von ihrem Land vertrieben, eine rechtlich vorgeschriebene Konsultation der Bevölkerung führte die Regierung nicht durch. Francia Márquez kämpfte jahrelang für die Menschen und den Fluss. 2014 organisierte sie mit weiteren Afrokolumbianerinnen einen zehntägigen »Marsch der Turbane« nach Bogotá, benannt nach den bunten Kopfbedeckungen, die viele der Frauen trugen. Ziel war, auf die verheerenden Auswirkungen des Extraktivismus aufmerksam zu machen. Der jahrelange Kampf hatte Erfolg: Die geplante Umleitung des Río Ovejas wurde gestoppt. Und auch die Bergbaukonzerne zogen sich aus der Region zurück. Die Drohungen paramilitärischer Gruppen nahmen hingegen zu, Márquez floh mit ihren beiden Kindern nach Cali. Sie reiste 2015 zu den Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der Farc-Guerilla in Kubas Hauptstadt Havanna, um von den Auswirkungen des bewaffneten Konflikts auf Frauen und afrokolumbianische Gemeinschaften zu berichten. 2018 erhielt sie für ihr Engagement gegen Bergbau den renommierten Goldman Environmental Prize. 2019 verübten Paramilitärs ein Attentat auf Márquez, die sich zu der Zeit als Gemeinderätin in ihrem Heimatdorf betätigte.
Mit ihrer Herkunft und Geschichte steht Francia Márquez für das marginalisierte Kolumbien, auf das die rechten Regierungen stets verächtlich hinabblickten. Kritikerinnen und Kritiker werfen ihr vor allem fehlende politische Erfahrung vor, da sie noch nie ein politisches Amt ausgeübt habe. Márquez konterte im Wahlkampf elegant. Mit Verweis auf die bisherige politische Elite fragte sie: »Warum hat ihre Erfahrung es uns nicht ermöglicht, in Würde zu leben?« Wie diskreditiert diese Elite ist, zeigt sich daran, dass es mit Hernández ein rechter »Antipolitiker« in die Stichwahl schaffte, den viele als »kolumbianischen Trump« bezeichnen. Der wichtigste Programmpunkt des 77-jährigen Bauunternehmers war der Kampf gegen Korruption. Gleichzeitig war er der einzige Kandidat, gegen den ein Korruptionsverfahren läuft. Die politische Rechte stellte sich in der Stichwahl überwiegend hinter ihn, weil er ihnen trotz seiner Elitenkritik weitaus näher steht als Petro.
Das Programm der ersten progressiven Regierung in der Geschichte Kolumbiens ist ein klassisch sozialdemokratisches mit grünen Einflüssen. In Kolumbien gilt das bereits als gefährlich. Linke Politik wurde in den vergangenen Jahrzehnten häufig offen gewaltsam bekämpft. Dass Kolumbien mit Francia Márquez erstmals eine schwarze Vizepräsidentin hat, ist das Ergebnis der politischen Umbrüche, die das Land in den letzten Jahren erlebt hat. Das Friedensabkommen von 2016 sowie die breiten gesellschaftlichen Proteste von 2019 und 2021 haben soziale Probleme sichtbarer gemacht und gleichzeitig Lösungen dafür aufgezeigt.
International galt das mit den USA verbündete Kolumbien lange als Hort neoliberaler Stabilität. Die Besteuerung von Unternehmen und hohen Einkommen war traditionell gering, und nach Brasilien hat Kolumbien den zweithöchsten Militärhaushalt in Lateinamerika. Die Regierung unter Iván Duque (2018 bis 2022) setzte auf eine Vertiefung der neoliberalen Politik, das hatte bereits im November 2019 mehrwöchige Proteste ausgelöst. War damals die Mittelschicht bei den Protesten noch stärker präsent, so waren 2021 deutlich mehr marginalisierte Jugendliche dabei, die kaum eine Perspektive haben. Während der Corona-Pandemie hatte die Armut nochmals zugenommen. Laut offiziellen Zahlen lebten im Jahr 2020 42,5 Prozent der Kolumbianerinnen und Kolumbianer in Armut, der Anteil jener in extremer Armut lag bei 14,2 Prozent. 2021 sank die Armut auf 39,3 Prozent (19,6 Millionen Personen). Die extreme Armut lag bei 12,2 Prozent.
»Das Programm der ersten progressiven Regierung in der Geschichte Kolumbiens ist ein klassisch sozialdemokratisches mit grünen Einflüssen. In Kolumbien gilt das bereits als gefährlich. Dass das Land mit Francia Márquez heute erstmals eine schwarze Vizepräsidentin hat, ist auch das Ergebnis der politischen Umbrüche, die das Land in den letzten Jahren erlebt hat.«
Eine geplante Steuerreform, die vor allem ärmere und Mittelschicht-Haushalte belastet hätte, löste im April 2021 schließlich eine mehrmonatige Protestwelle gegen die Regierung Duque aus. Auch Francia Márquez ging auf die Straße. Die Polizei schoss teilweise mit scharfer Munition und schützte Personen, die Demonstrierende attackierten. Die Zusammenarbeit zwischen Sicherheitskräften und paramilitärischen Gruppen ist seit langem bekannt. Während des Bürgerkriegs zwischen der Regierung und Guerillas wie der Farc (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) und der ELN (Nationale Befreiungsarmee) definierte die Regierung sämtliche linke Gruppen als Staatsfeinde. Im Umfeld rechter Politiker ist diese Überzeugung noch tief verankert. So folgte die Polizei bisher der Logik des Bürgerkriegs. Dabei sollte dieser längst durch ein Friedensabkommen beendet sein. Doch Ex-Präsident Duque und seine Partei Demokratisches Zentrum machten nie einen Hehl daraus, dass sie das Abkommen ablehnten, das sein Vorgänger im Präsidentenamt Juan Manuel Santos 2016 mit der Farc ausgehandelt hatte. Die Umsetzung des Abkommens verläuft schleppend, von echtem Frieden ist vielerorts nichts zu spüren. So ist die Gewalt insgesamt zwar zurückgegangen. Doch sind neben Farc-Dissidenten und der kleineren Guerilla ELN auch paramilitärische Gruppen weiter aktiv. Teilweise dringen sie in Gebiete vor, die zuvor die Farc kontrollierte. Laut dem kolumbianischen Institut für Friedens- und Entwicklungsstudien (Indepaz) wurden seit Abschluss des Friedensabkommens mehr als 1.400 Aktivisten sowie über 300 demobilisierte Farc-Kämpfer getötet. Allein in diesem Jahr zählte Indepaz bis Anfang November 156 getötete Aktivistinnen und Aktivisten, davon 42 nach dem Amtsantritt von Petro und Márquez. Von allen departamentos verzeichnet Cauca die meisten Morde. Aufgeklärt werden sie so gut wie nie.
Zudem enthält das Friedensabkommen einige Aspekte, denen die Vorgängerregierung kaum Beachtung schenkte. Dazu gehören eine integrale Landreform, Wiedergutmachung und Sicherheitsgarantien für Oppositionelle und Ex-Guerilleros. Die Aushöhlung des Friedensabkommens begann letztlich bereits unter Ex-Präsident Santos, nachdem die Bevölkerung dessen erste Fassung im Oktober 2016 per Referendum abgelehnt hatte.
Zahlreiche Herausforderungen
Trotz einer seit Jahrzehnten von politischer Gewalt geprägten Gesellschaft gibt es in Kolumbien ein breites Spektrum sozialer Mobilisierung. Auch diese hat den Wahlsieg von Petro und Márquez ermöglicht. Nun warten auf die neue Regierung enorme Herausforderungen. Im Kongress hat das Wahlbündnis »Historischer Pakt« keine Mehrheit. Petro, der sich bereits im Wahlkampf teilweise mit konservativen Beratern umgeben hat, konnte jedoch durch Verhandlungen mit kleineren Parteien vorerst in beiden Parlamentskammern eine Mehrheit der Sitze herstellen. Auch sein Kabinett besetzte er mit Politikerinnen und Politikern unterschiedlicher Strömungen. Bei den geplanten Reformen ist er also auf Absprachen mit anderen Kräften angewiesen. Gleichzeitig steht die neue Regierung nicht zuletzt durch Francia Márquez in direktem Kontakt mit sozialen Bewegungen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen.
Laut ihrem Programm wollen Petro und Márquez Armut und Ungleichheit durch Sozialprogramme bekämpfen, das Renten-, Gesundheits- und Bildungssystem stärken und die Abhängigkeit von Rohstoffen verringern. Der ländliche Raum sowie der Tourismus sollen gefördert und grüne Energieprojekte ausgebaut werden. Zudem hat die Regierung neue Verhandlungen mit der noch aktiven ELN-Guerilla aufgenommen und will das Friedensabkommen mit der Farc vollständig umsetzen. Dies fordert auch die Wahrheitskommission, die Ende Juni ihren über 8.000 Seiten umfassenden Abschlussbericht über die Verbrechen des jahrzehntelangen Kriegs vorlegte. Ende Oktober erklärte Petro den offiziellen Beginn der Agrarreform, indem er eine Länderei des früheren Paramilitärchefs Carlos Castaño an Bäuerinnen und Bauern zur Nutzung übergab. Auch kauft die Regierung der mächtigen, dem Paramilitarismus nahestehenden Viehzüchtervereinigung Fedegan drei Millionen Hektar Weideland ab, um dieses an Kleinbauern zu verteilen. Um die enorme Landkonzentration abzubauen, die als Hauptursache für den jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt in Kolumbien gilt, müsste aber auch effektiv Land enteignet und umverteilt werden. Dies ist jedoch nicht in Sicht und würde ein enormes Eskalationspotenzial mit sich bringen. Die Regierung wandelt bei dem Thema auf einem schmalen Grat, da sie das Land vor allem befrieden will. Anfang November verabschiedete der Kongress ein Gesetz für den »umfassenden Frieden«. Dieses ermöglicht es der Regierung, mit allen bewaffneten Gruppen über Frieden zu verhandeln, darunter auch Abspaltungen der Farc und paramilitärische Gruppen. Bisher war dies laut Gesetz ausschließlich mit der ELN-Guerilla möglich. Ebenfalls Anfang November verabschiedete der Kongress eine erste Steuerreform, die nach etlichen Debatten allerdings abgeschwächt worden war. Sie erhöht unter anderem die Abgaben für Gutverdiener und zumindest temporär auch für Öl- und Kohleunternehmen. Der Regierung soll die Reform im kommenden Jahr Mehreinnahmen von umgerechnet vier Milliarden US-Dollar bringen. Strukturelle Reformen der Sicherheitsbehörden und eine Abkehr von der Förderung fossiler Rohstoffe werden hingegen viel schwieriger durchsetzbar sein.
Außenpolitisch hat die Regierung damit begonnen, die Beziehungen zum Nachbarland Venezuela, das innerhalb Lateinamerikas immer weniger isoliert ist, zu normalisieren. Petros Vorgänger Iván Duque war in den vergangenen Jahren einer der entschiedensten Gegner des venezolanischen Staatschefs Nicolás Maduro, von kolumbianischem Territorium gingen mehrere gescheiterte Umsturzversuche aus. Wirtschaftlich schadete die diplomatische Eiszeit beiden Ländern. Petro fordert von der venezolanischen Regierung allerdings transparente Wahlen und die Einhaltung der Menschenrechte. Gegenüber den USA tritt er ebenfalls selbstbewusst auf.
Bei all diesen Themen spielt Francia Márquez bisher keine tragende Rolle. Diese wird sie vor allem mit dem neuen Ministerium für Gleichstellung finden müssen, das sich noch in der Gründungsphase befindet. Mitte Oktober legte die Regierung einen Gesetzentwurf zur Schaffung des Ministeriums vor, der nun durch den Kongress muss. Der Staat wolle »all jenen Gleichheit garantieren, die in der Vergangenheit ausgeschlossen und an den Rand gedrängt wurden«, erklärte Márquez bei der Unterzeichnung des Entwurfs. Genau dieser Teil der Gesellschaft hofft darauf, dass den Worten bald Taten folgen.
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