Die seit einem Jahr stark erhöhte Inflationsrate ließ viele Kommentatorinnen Vergleiche mit der hohen Inflation Anfang der 1970er-Jahre ziehen. Im Jänner 1973 gab der Ökonom Kurt W. Rothschild dem Wiener Tagebuch ein Interview zum Thema. Rothschild (1914–2010) galt als einer der maßgeblichen Wirtschaftswissenschafter im Nachkriegsösterreich. Biografisch war er durch die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise und das englische Exil geprägt, intellektuell verband er wie nur wenige Positionen des »neoklassischen« Mainstreams mit jenen des Keynesianismus, mitunter griff er auch auf marxistische Analysen zurück. Bemerkenswert an dem Interview ist aus heutiger Sicht dreierlei: Erstens macht Rothschild klar, dass Inflation unmittelbar das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit berührt – die aktuelle Debatte verschleiert dies insofern, als die Betroffenen vor allem in ihrer Rolle als »Konsumenten« angesprochen werden. Zweitens gesteht Rothschild ein, dass Vollbeschäftigung immer einen gewissen Basis-Inflationsdruck bedingt, mit dem man aber leben könne. Die heutige Mainstream-Ökonomie dagegen wendet diesen Zusammenhang in sein Gegenteil und strebt aktiv eine höhere Arbeitslosigkeit an, um die Inflationsraten zu senken (siehe den Beitrag von Miriam Frauenlob auf Seite 8). Drittens sieht er – Anfang der 1970er eine gängige Position – ein stärkeres Planungseingreifen in die Ökonomie als wichtigsten Hebel zur dauerhaften Kontrolle der Inflation.
Dr. Kurt Rothschild
Leben mit der Inflation?
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»Man kann Inflationstendenzen nicht nur in Zeiten der Hochkonjunktur beobachten, sondern eigentlich ständig seit Kriegsende, also seit nahezu drei Jahrzehnten. Seit dem Ende des Krieges trachten die kapitalistischen Industriestaaten eine relative Vollbeschäftigung zu erreichen bzw. zu erhalten, und zwar aus politischen wie aus sozialen Gründen. Man muß daher die Frage stellen, ob Preiserhöhungen inhärent sind, wenn man die Vollbeschäftigung erhalten will. Ich glaube, daß unter diesen Bedingungen eine gewisse Inflation unvermeidlich ist, ja, daß sie sozusagen in das wirtschaftliche System eingebaut ist.
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Ich möchte zunächst sagen, daß es keine Maßnahmen geben kann, die eine völlige Preisstabilität erreichen könnten. Man kann aber das Tempo der Inflation bremsen. Auch bei einer strengen Fixierung der Löhne und Gehälter würden die Preise steigen, durch Preissteigerungen im Ausland und durch Änderungen in der Produktions- und Monopolstruktur.
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Denn in der Praxis ist es zwar möglich, Löhne und Gehälter ziemlich genau zu kontrollieren, nicht aber Preise und Profite. Eine einseitige Politik, durch welche nur oder fast ausschließlich die Löhne fixiert würden, wäre nur kurzfristig möglich, sie würde sehr bald zu wachsendem Widerstand der Arbeiter und Angestellten führen [...].
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Ich möchte nochmals zusammenfassen: Einkommenspolitik muß in ein weiteres Konzept der Verteilungs- und Wirtschaftspolitik eingebaut werden.
Meiner Meinung nach kann ohne stärkere wirtschaftliche Planungsmaßnahmen kein ernsthafter andauernder Erfolg erreicht werden. Man müßte durch Lenkung der Kredite und andere Maßnahmen eine bessere Abstimmung der privaten und öffentlichen Investitionen erreichen, und zwar so, daß der Anteil der öffentlichen Investitionen erhöht werden kann und Volumen und Richtung von Investitionen auf dem privaten Sektor den Erfordernissen einer vollbeschäftigten und umweltfreundlichen Wirtschaftsentwicklung bei geringen Inflationstendenzen entsprechen. Eine weitere Maßnahme wäre eine Verringerung der großen Einkommensunterschiede [...]. [...] Alles das wäre ohne Eingriffe in die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur kaum oder gar nicht zu erreichen.«
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