Wissen Sie noch, was Sie vor acht Jahren auf Twitter gepostet haben? Im März 2022 wurde der kurdische, türkischsprachige Schriftsteller Yavuz Ekinci vor einem türkischen Gericht der »Terrorpropaganda« schuldig gesprochen und zu mehr als einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Die Grundlage waren eine Handvoll Tweets aus dem Jahr 2014, in Social-Media-Zeitmaßstäben also anno Schnee. Ekincis Fall hat durchaus etwas Absurdes, Kafkaeskes: Da hat sich jemand durch Jahre über Jahre von Tweets gegraben, um daraus einen Fall fürs Strafgericht zu stricken.
Es ist eben diese Absurdität, an der man die Willkürherrschaft totalitärer Machthaber erkennen kann. Ekinci arbeitet als Lehrer in Istanbul, geboren wurde er auf dem Land im Südosten der Türkei nahe der Stadt Batman. Seine Romane thematisieren häufig kurdische Identitäten und Schicksale, außerdem ist er Herausgeber kurdischer Exilliteratur. Für die Kunstexperten der Ära Erdoğan reicht das scheinbar schon, um sich verdächtig zu machen.
Vor wenigen Wochen machte der Schriftsteller – der auf bewundernswerte Weise allen Einschüchterungsversuchen trotzt – bekannt, dass nun auch sein 2014 erschienener Roman Rüyası Bölünenler (»Traumsplitter«) verboten wurde. Man darf ihn nicht mehr drucken, nicht mehr verbreiten, nicht mehr kaufen. »Ein Roman ist Fiktion«, schrieb Ekinci. »Dass die von mir geschaffene Welt einem Gericht als Wirklichkeit erscheint, zeugt vielleicht von der Kraft meines Schreibens, vor allem aber von einer seltsamen Literaturauffassung des Gerichts. (…) Will das Gericht etwa die Romanfiguren von Rüyası Bölünenler verhaften lassen und ins Gefängnis bringen? Bitteschön, wenn Sie dazu in der Lage sind, dann tun Sie das ruhig.«
So sieht es also aus, wenn die in der Literaturwissenschaft so angesagte Fiktionalitätstheorie auf politische Wirklichkeiten trifft. Zwei von Ekincis Romanen sind übrigens von Oliver Kontny ins Deutsche übersetzt worden und im Verlag Antje Kunstmann erschienen. Die zu lesen ist eine diebische Freude; sich vorzustellen, wie eine Figur wie der weise Narr Mehdi aus Die Tränen des Propheten heute vom Staat bedrängt würde, eher ein Trauerspiel.
Noch ist unmöglich zu sagen, was der Ausgang der Wahl für Yavuz Ekinci ganz konkret bedeuten wird – evident ist, dass es für viele türkische Intellektuelle, Schriftstellerinnen, Kunstschaffende um nicht weniger als die Freiheit ihrer Arbeit und die Grundlagen ihrer Existenz geht. Für viele auch um die Entscheidung, ins Exil zu gehen oder trotz Repressionen von der Türkei aus weiterzumachen.
»Erdoğans letzter Seiltanz«, wie es auf dem Cover unserer Mai-Nummer mit Schwerpunkt zur Türkei hieß, war bei Redaktionsschluss noch nicht vorbei. Auf die erforderlichen 50 Prozent der Stimmen kamen im ersten Wahlgang weder er noch Kemal Kılıçdaroğlu. Viele Oppositionelle, die gegen Erdoğans Politik der Einschüchterung eintreten, können den Balanceakt nur aus dem Gefängnis heraus verfolgen. Die Fallhöhe für den Seiltänzer Erdoğan ist jedenfalls enorm.
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