Folgenschwere Entwicklungen lassen sich in der Nachbetrachtung oft schlaglichtartig an wesentlich früheren Nebenereignissen ablesen. So berichtete Leopold Spira, zentraler Akteur des Wiener Tagebuch, im Jahr 1983 über einen politischen Schlagabtausch aus dem Frühjahr 1923, nämlich den letztlich gescheiterten Versuch der Christlichsozialen Partei, bei der damals anstehenden Volkszählung eine Kategorisierung der Bevölkerung nach »Rassen« durchzusetzen.
Die Episode liefert ein weiteres Indiz gegen den in Österreich lange gepflegten Mythos, wonach Rassenwahn und Antisemitismus gleichsam fremde »Importe« gewesen wären, von den Nazis nach Österreich eingeschleppt. Die heutige Forschung weiß, wie tief diese Ideen schon zuvor verwurzelt waren, insbesondere in Milieus der Christlichsozialen.
Dass Spira solch ein Fundstück im Mai 1983 vorlegte, war indes kein Zufall: Volkszählungen wurden damals in weiten Teilen der deutschsprachigen Linken als eine Zumutung staatlicher Kontrolle zurückgewiesen. Die Volkszählung 1983 in Westdeutschland musste aufgrund von Protesten abgeblasen werden. Nur drei Jahrzehnte später dagegen sollte im Rahmen des anbrechenden Social-Media-Zeitalters eine ähnlich umfassende Erhebung personenbezogener Daten, dieses Mal durch private Konzerne, allgemeine Hinnahme finden.
Leopold Spira
Volkszählung und Rasse
Volkszählungen sind immer etwas unheimlich, auch wenn die zu beantwortenden Fragen nicht verfänglich sind. Nicht jeder läßt sich gerne zählen und man weiß ja nie, welche Folgen die amtliche Erfassung haben könnte. Aber im allgemeinen liefen bisher Volkszählungen ohne besondere Erschütterung [...] ab. Daß das heute in der Bundesrepublik anders ist, hängt zweifellos mit der explosiven Entwicklung der Überwachungstechnik und -praxis des Staates zusammen [...].
[...]
[A]uch hierzulande löste einmal eine Volkszählung heftige Polemiken und auch Widerstände aus [...].
Für Anfang März 1923 [...] wurde eine Volkszählung angesetzt, die erste in der Republik. Alles wurde vorbereitet wie üblich, der junge republikanische Staatsapparat stützte sich auf jahrhundertelange Erfahrungen des habsburgischen. Doch wenige Wochen vor dem angesetzten Termin stellte der christlichsoziale Abgeordnete Dr. Jerzabek, Obmann des Antisemitenbundes, im Nationalrat den Antrag, neben der Muttersprache auch nach der Rasse zu fragen. [...] [A]nfang Februar, vier Wochen vor der Volkszählung, beschloß die christlichsoziale Mehrheit im Nationalrat, [...] auch die Rasse angeben zu lassen. [...] Verwendung fanden allerdings die bereits gedruckten Formulare, auf denen [wegen des späten Nationalratsbeschluss, Anm.] nichts von Volkszugehörigkeit und Rasse zu finden war.
Der Begriff »Rasse« war bis dahin amtlich nicht verwendet worden [...]. [...] Im Friedensvertrag von St. Germain, auf den sich der Innenminister berief, hatte es in Punkt 80 geheißen: »Pour protéger les interets des habitants, qui different de la majorité de la population par la race, la langue etc...« Nun wird das Wort »race« im Französischen und Englischen in dem vorliegenden Zusammenhang im Sinne von Nationalität gebraucht, und im Friedensvertrag ist anstelle von »race« auch von »minorités ethniques« die Rede – es ging um die Rechte der nationalen Minderheiten, ein noch immer aktuelles Problem. Aber »race« heißt eben auch »Rasse«, und das benützten die Christlichsozialen und Deutschnationalen, um ein Jahrzehnt vor den Nürnberger Rassegesetzen den Rassenbegriff als amtliches Merkmal einzuführen. [...]
Die Sozialdemokratische Partei lehnte die Aufnahme des Rassenbegriffs in die Volkszählung ab. Die »Arbeiter Zeitung« informierte ihre Leser, die Staatsbürger wären nur verpflichtet, die auf dem amtlichen Zählblatt angeführten Fragen zu beantworten. [...]
[...]
Die Volkszählung 1923 lief ordnungsgemäß ab, die Frage nach der Rasse wurde statistisch niemals ausgewertet und scheint in den Ergebnissen nicht auf. Aber zehn Jahre später wurde dieselbe Frage zu einer Entscheidung über Leben und Tod.
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