50 Jahre wilder Streik bei Ford

von David Mayer

Wiener Tagebuch, Nr. 10, Oktober 1973


521 wörter
~3 minuten

Im Jahr 1973 kam es in mehreren Ländern Westeuropas zu einer Welle von Arbeitsniederlegungen. Dabei spielten »wilde«, also nicht von den Gewerkschaften gebilligte Streiks eine bedeutende Rolle. Wichtiger noch: Erstmals traten migrantische Arbeiter und Arbeiterinnen als Streikende hervor. Sie machten deutlich, dass sich die industrielle Arbeiterklasse in Westeuropa zum Teil erheblich geändert hatte.

Der Streik bei Ford in Köln Ende August 1973 war die wichtigste, aber auch bitterste dieser Streiks. Tausende türkische und deutsche Arbeiter legten zunächst gemeinsam die Arbeit nieder, nachdem zuvor circa 400 Arbeiter entlassen worden waren. Es war ganz wesentlich ein Kampf um Zeit: Viele waren zu spät aus dem vierwöchigen Jahresurlaub zurückgekehrt, denn der Weg in die und aus der Türkei wurde in tagelangen Autoreisen bewältigt, vier Wochen waren schlicht zu kurz.

Innerhalb weniger Tage jedoch gelang es der Betriebsführung, die Streikenden auf die türkische »Gruppe« zu reduzieren, am Ende kam es zur direkten Konfrontation zwischen deutschen und türkischen Arbeitern. Auch der Gewerkschaftsverband IG Metall spielte eine unrühmliche Rolle. Der Streik endete in einer Niederlage. Der Autor des Beitrags im Wiener Tagebuch, Walther Müller-Jentsch, wurde im Übrigen später als eine der wichtigsten Industrie- und Gewerkschaftssoziologen des deutschen Sprachraums bekannt.

Walther Müller-Jentsch

Spontane Streiks in der BRD

[...]

Eine neue Welle spontaner Streiks in der Metallindustrie hat die westdeutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt. Was gestern noch in Presse und Funk als »englische Krankheit« oder »italienische Zustände« apostrophiert wurde, mutet gar nicht mehr so exotisch an. Der Klassenkampf wird in Westdeutschlands Fabriken heimisch. 
Seit Anfang April haben etwa 190 spontane betriebliche Streiks mit einer Streikbeteiligung von mindestens 160.000 Arbeitern und Arbeiterinnen stattgefunden. Es handelt sich dabei bis auf wenige Ausnahmen um Beschäftigte in der Metallindustrie. Was die diesjährige Streikbewegung von der 69er unterscheidet, ist [...] [die härtere] Austragung der Arbeitskämpfe. Durch die aktive Beteiligung und teilweise führende Rolle großer Gruppen ausländischer Arbeiter nahm die Streikbewegung verschiedentlich einen militanten Charakter an. [...]

[...]

Die Forderungen der Streikenden richteten sich in der Mehrzahl auf Teuerungszahlungen. [...]

[...] 

Andere Kampfforderungen bezogen sich auf Lohngruppeneinstufungen, Urlaubsregelungen und Verlangsamung der Bandgeschwindigkeit. Diese Forderungen wurden fast ausschließlich von den ausländischen Arbeitern unter den Streikenden aufgestellt. Sie sind in der Mehrzahl in den niedrigen Lohngruppen eingestuft und stehen am stärksten unter dem Druck der Arbeitshetze an den Fließbändern; außerdem benötigen sie zur Heimreise einen längeren zusammenhängenden Urlaub.

[...]

Streiks, bei denen die Initiative von den ausländischen Arbeitern und Arbeiterinnen ausgingen, waren die Streiks bei Hella in Lippstadt, Pierburg in Neuss und Ford in Köln. Die ersten beiden Unternehmen sind Autozuliefererbetriebe. […] Bei Ford beispielsweise sind 90 Prozent der Bandarbeiter Ausländer, und die Bandgeschwindigkeit ist [...] die höchste in der BRD.

[...]

In den Ford-Werken sank die Streikbereitschaft der deutschen Arbeiter, nachdem die Unternehmensleitung einer Teuerungszahlung von 280 DM und die Bezahlung der Streiktage zugebilligt hatte. Die türkischen Arbeiter, die für einen längeren Urlaub und die Verlangsamung des Arbeitstempos weiterstreikten, bekamen bald die Feindseligkeit ihrer deutschen Kollegen zu spüren, die sich für eine Streikbrecheraktion unter Führung des Betriebsrats mißbrauchen ließen.
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