Als ich Anfang der 1990er-Jahre politisch aktiv wurde, ging in sozialdemokratischen Basismilieus ein Bonmot um, das dem damaligen SPÖ-Vorsitzenden und Bundeskanzler Franz Vranitzky zugeschrieben wurde: »Wer Visionen hat, braucht einen Arzt.« Über die Urheberschaft wurde danach immer wieder gestritten (Vranitzky beim Parteitag 1988? Ein Profil-Redakteur? Der deutsche Ex-Kanzler Helmut Schmidt bereits Anfang der 1980er?), doch das kümmerte wenige, zu gut schien dieser Spruch den »Zeitgeist« auf den Punkt zu bringen: den Übergang sozialdemokratischer Politik von Reformen zugunsten der Mehrheit, aber innerhalb des Systems, hin zu einem »dritten Weg«, der nur noch die Ambition einer Verwaltung von »Sachzwängen« bedeutete, in manchen Fällen, wie in Deutschland, gar einen veritablen Angriff auf die Schwächeren in der Gesellschaft zur Folge hatte. Es begann eine lange Phase eines »Reformismus ohne Reformen«, der die einstmals mächtigen Reformparteien der Arbeiterbewegung zu kleinen oder sogar Kleinstparteien werden ließ.
Für jene, die in den späten 1980ern und frühen 1990ern ihr politisches Coming-of-Age hatten, war es daher mehr als ein bloßer rhetorischer Zug, als Andreas Babler beim SPÖ-Sonderparteitag Anfang Juni in seiner Rede verkündete: »Träumer? Das ist einfach ein anderes Wort für Sozialdemokrat.« Es fühlte sich wie das Ende einer dunklen Epoche an, wie der symbolische Umschwung eines Pendels, das volle drei Jahrzehnte in die falsche Richtung gegangen war. Diesen Moment, da kann man sich sicher sein, empfanden auch jene, die sich Illusionen in Bezug auf sozialdemokratische Politik und ihre transformatorischen und progressiven Potenziale für gewöhnlich nicht hingeben.
Wie weit kann das von Andreas Babler wieder aus der Verbannung geholte »Träumen« tragen? Genau dieser Frage geht Samuel Stuhlpfarrer in seinem Beitrag nach. Alfred J. Noll wiederum beleuchtet ein ähnliches Problem mit Blick auf den zweiten linken Aufbruch in Österreich, die Wahlerfolge der KPÖ in Graz und Salzburg. Auch der Erfolg Bablers hat in den letzten Wochen eine zum Teil ans Absurde grenzende Welle des antimarxistischen und antisozialistischen Ressentiments zutage gebracht. Selbst Symbolfiguren bürgerlicher Gebildetheit wie ORF-Anchorman Armin Wolf ließen dabei ein eklatantes Maß an historischer Unkenntnis erkennen. Die Reaktion auf die Erfolge der KPÖ waren in den Monaten davor mitunter noch schriller. Hebelpunkt der Kampagne bildete die Beifügung »kommunistisch«. Doch gerade dieser sollte man sich nicht entledigen, meint Alfred J. Noll, weil der darin enthaltene programmatische, »träumerische« Anspruch nur glaubwürdig ist, wenn die Erinnerung an die historischen »offenen Wunden« nicht verhehlt wird.
Das TAGEBUCH freilich ist nicht nur ein Ort für die Diskussion linker politischer Praxis mit ihren Dilemmata, Widersprüchen und realen Kompromissen, sondern auch für die Offenlegung all jener »verborgenen Stätten«, wie es bei Marx heißt, die Produktion und Reproduktion des Kapitalismus erst möglich machen. Drei wurden in den letzten Jahren international besonders intensiv diskutiert: erstens die von Frauen geleistete Fürsorgearbeit und das gewaltvolle Fügsammachen weiblicher Körper; zweitens koloniale Expansion und Extraktion als fundamentaler Modus der Aneignung; drittens die Sklaverei als radikalisierter Modus, auf Arbeit ohne Einschränkung zuzugreifen. Rita Segato, eine der bekanntesten radikalen Feministinnen Lateinamerikas, umreißt im Interview mit Marcella Torres Heredia, wie koloniale und sexistische Gewalt bis heute zusammenwirken. Und ein Vorabdruck aus Marcus Redikers endlich auf Deutsch erscheinenden Buch Das Sklavenschiff erinnert daran, dass Versklavung kein Sonderfall in der historischen Entwicklung dieses Wirtschaftssystem ist, sondern etwas über seinen zur Entgrenzung drängenden Grundcharakter verrät.
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