Nicht mehr normal
von Benjamin Opratko
Sowohl von linker als auch rechter Seite will man eine »Normalitäts«-Debatte führen.
Auf den ersten Blick haben Karl Nehammer und Sahra Wagenknecht nicht viel gemeinsam. Hier der ÖVP-Kanzler, der daran scheitert, das Erbe des gefallenen Wunderknaben zu verwalten; dort die ehemalige Linken-Fraktionsvorsitzende, die wohl bald ihre eigene Partei anführt. Man kann sich Wagenknecht auch nur sehr schwer beim Krügerl-Exen im Festzelt vorstellen. Doch beide polstern ihre Politik seit kurzem in die gleiche Wortwolke: Es möge endlich wieder Normalität herrschen.
Die ÖVP hat daraus gleich eine ganze Kampagne gemacht. In das Sommerloch hinein posaunte sie, nunmehr »Politik für normale Menschen« machen zu wollen und nicht für Klimaaktivistinnen, Vegetarier und Feministinnen. Ganz, als hätte die ÖVP das jemals getan. Wagenknecht wiederum zieht mit ähnlichen Tönen durch die Bundesrepublik. »Der Linken-Führung sind Klimakleber wichtiger als normale Leute«, erklärte sie der Berliner Zeitung im Interview, die den Sager prompt als Überschrift wählte. Der SPÖ ist dieser Tonfall knapp erspart geblieben. Der Doskozil-Adjutant Max Lercher hatte im innerparteilichen Wahlkampf für eine »neue Kultur der Normalität« geworben.
Man kann über die machtvolle Scheidung der »Normalen« von den »Abnormalen« viel in den Schriften des deutschen Literaturwissenschafters und Diskursforschers Jürgen Link lernen, der seit 30 Jahren über den »Normalismus« schreibt. Was als normal gilt, so Link, ist in modernen Gesellschaften Gegenstand von Machttechniken, wobei das Feld des (gerade noch) Normalen seit Mitte des 20. Jahrhunderts tendenziell ausgeweitet wurde. Im Feld der Lebensstile und Sexualitäten etwa ist das augenscheinlich.
Die Vorstöße von Nehammer und Wagenknecht sind Versuche, diesen »flexiblen Normalismus« wieder zurückzudrängen. Denn wenn das Feld des Normalen – die dicke Mitte einer Gauß’schen Glockenkurve – zusammengestaucht wird, hat das zwei Effekte: Teile der Gesellschaft, die sich bislang als ihre Mitte verstanden – etwa Jugendliche, die ihre Zukunft von der Klimakrise bedroht sehen –, werden daraus verstoßen. Die verbliebene Mitte aber erhält mehr Dichte und bietet jenen, die sich zu ihr zählen können, Halt in unsicheren Zeiten. Zusammenhalt auf Kosten der Ausgeschlossenen zu stiften ist freilich ein altes klassenpolitisches Kalkül. Bemerkenswert ist, dass es aktuell auf jeder Seite des politischen Spektrums lockt.
»Zusammenhalt auf Kosten der Ausgeschlossenen zu stiften ist freilich ein altes klassenpolitisches Kalkül.«
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