Israel und der
ewige Herr Karl

von David Mayer

Wiener Tagebuch, Nr. 11, November 1973


589 wörter
~3 minuten

Leopold Spira (1913–1997) gehörte zum engsten redaktionellen Kreis des Wiener Tagebuch und stand stellvertretend für jene besondere Gruppe, die in dieser Zeitschrift seit der Gründung ihres Vorläufers Österreichisches Tagebuch im Jahr 1946 ihren publizistischen Ausdruck gefunden hatte: kommunistische, intellektuelle Remigranten, die sich zunehmend vom offiziellen Kommunismus entfernten, jüdischen Familienhintergrunds, jedoch zionismusskeptisch waren, zugleich aber den Staat Israel nicht negierten. Was von Autoren und Autorinnen aus dieser heterogenen Gruppe zum Nahostkonflikt geschrieben wurde, wirkt auch heute noch bedacht und akkurat. So kommentierte Spira im November 1973 die Wandlungen von (altem) Antisemitismus und (neuer) Israel-Unterstützung seit Ende der 1960er-Jahre. Anlass war noch nicht so sehr der Jom-Kippur-Krieg (die Kampfhandlungen hatte nur Tage vor Redaktionsschluss begonnen), sondern die Marchegg-Affäre im September 1973, als Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) unter dem Druck einer Geiselnahme durch zwei Attentäter aus Syrien ein Durchgangslager für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion geschlossen hatte und sich in der Folge mit schweren Vorwürfen konfrontiert sah. Der Kommentar Spiras bezog sich dabei weniger auf die Konflikte um Israel und Palästina selbst als auf die darauf gerichteten Projektionen in einem Land, das die Mitverantwortung am Holocaust, wenn überhaupt, dann mehrheitlich nur mit einer Herr-Karl-Mentalität zu gewärtigen bereit war.

Leopold Spira

Karl ci, Karl là

Der Antisemitismus, in Österreich noch tiefer verwurzelt als in Deutschland, war viele Jahrzehnte lang die Begleiterscheinung nahezu jeder politischen Auseinandersetzung. Die blutigen Massenmorde, in die der Antisemitismus schließlich mündete, belasten bis heute das Selbstverständnis der Österreicher.

[...]

Anfang der sechziger Jahre [...] wurde der Antisemitismus wieder zu einer in der Öffentlichkeit spürbaren Strömung. Doch der Tod [des] Antifaschisten [Ernst Kirchweger, Anm.] im Frühjahr 1965 [...] brachte einen Wendepunkt. [...] Der Schock war heilsam; die Öffentlichkeit reagierte nun empfindlicher auf jede antisemitische Äußerung.
Zwei Jahre später brandete eine Welle der Sympathie für die siegreiche israelische Armee über Österreich. Schuldkomplexe konnten umso leichter abreagiert werden, als man weit vom Schuß war und die Sympathie zu nichts verpflichtete. [...]
Und nun kam Marchegg. [...] Die Juden waren auf einmal wieder zu einem Faktor der österreichischen Politik geworden [...]. 

[...]

Aber die Verwirrung ging und geht noch weiter. Im Bewußtsein der meisten Österreicher sind die Begriffe »Juden« und »Israel« identisch. Diese Gleichsetzung wurde ja indirekt schon von der nazistischen Propaganda gemacht, die alle, die nach den Nürnberger Rassengesetzen als Juden qualifiziert wurden, als Volksfremde bezeichnete, die dorthin zurückkehren sollten, woher sie gekommen sind. Mit allem Nachdruck wird diese Gleichsetzung auch von der israelischen Propaganda gestützt, die jede Kritik an der Haltung des Staates Israel als Antisemitismus bezeichnet und aus dem grausamen Schicksal der Juden die Rechtfertigung für alles ableitet, was Israel tut oder nicht tut. Umgekehrt wurde die Gleichsetzung von Juden und Zionismus in Ländern wie Polen zur Motivierung und Beschönigung von Aktionen, die nichts mit einer Auseinandersetzung mit dem Staat Israel zu tun hatten, sondern nackter Antisemitismus waren. 
Die Konfrontation mit Israel, in der sich Österreich ganz überraschend befand, kann das politische Bewusstsein positiv beeinflussen, wenn sie als Konfrontation mit der ganzen Problematik des Nahen Ostens erfolgt. Aber es kann auch die gegenteilige Wirkung eintreten, wenn sich die Mentalität des ewigen Herrn Karl durchsetzt. Es geht dabei nicht nur um das Problem des Antisemitismus. Es geht nicht zuletzt um das selbstgefällige Sumpertum, das kühl bis ans Herz hinan verfolgt, was da irgendwo in Vietnam oder Chile geschieht, aber rabiat wird, wenn es sich beim Genuß des Opiums des österreichischen Sumpers: »Ich will nichts wie meine Ruhe haben!«, gestört fühlt.
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