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Ein beschauliches Kleinbürgerleben hat Leni Müller sich da aufgebaut: ein gut situiertes Heim im noblen Berliner Bezirk Steglitz, eine fein austarierte Tagesroutine aus Einkäufen und Hausarbeit, mit dem Ehemann Ivan, erfolgreicher Architekt, kein Wort zu viel gesprochen und ein stummes und schlechtes, aber immerhin vorhandenes Sexleben. So zeigt sich Lenis Alltag in Inès Bayards Steglitz, die damit nach ihrem mit dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichneten Debüt Scham (2020) ihren zweiten Roman vorlegt. Doch dass es mit der Beschaulichkeit nicht weit her ist, zeigt schon bald der Besuch des angeblichen Kommissars Ziegler, der das Ehepaar zu einem Schusswechsel in ihrem Grätzel befragen möchte.
Freilich hat niemand etwas gehört oder gesehen, und damit ist man schon ganz nah dran an der Grundstimmung des Romans: Das Verdrängte, Unausgesprochene, das Nichthinschauen wabert durch ein gefühlt immer nebliges, düsteres und klarerweise schmutziges Berlin, das man sich beim Lesen wie einen Film noir vorstellt. Ständig lehnt jemand irgendwo im Halbdunkel und raucht eine verräterische Zigarette. Womit man auch schon bei dem Problem des Buches wäre: Ganz glaubhaft ist das Ganze nicht. Denn schon bald überschlagen sich die Ereignisse. Kurz nach dem Besuch des Kommissars wird Leni aus ihrer überlebenswichtigen Routine geschleudert. Ivan verlässt sie scheinbar aus heiterem Himmel, überbracht wird ihr die Nachricht von ihrem plötzlich auftauchenden Bruder Émile. Auch ihre Mutter Rosa trifft sie wieder – als abgehalfterte Erscheinung an der Bar eines Hotels, das sich an genau jener Adresse befindet, an der Ivan für seine Frau einen Arzttermin vereinbart hat. Wegen der nervösen Zustände, die Leni seit dem Auftauchen Zieglers hat.