Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. (F.: fotogoocom / Wikimedia Commons)

Offener Brief zum Missbrauch des Holocaust-Gedenkens

von Omer Bartov, Christopher R. Browning, Jane Caplan, Debórah Dwork, Michael Rothberg et al.

Im Ringen um ein Verständnis für die Ursachen der Gewalt in Israel und Palästina ist die Berufung auf den Holocaust gefährlich falsch.


1301 wörter
~6 minuten

Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Briefes, sind Holocaust- und Antisemitismusforscher aus unterschiedlichen Institutionen. Wir schreiben dies, weil wir unsere Bestürzung und unsere Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringen möchten, dass führende Politiker und bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich auf die Erinnerung an den Holocaust berufen, um die aktuelle Krise in Gaza und Israel zu erklären.

Die Beispiele dafür reichen vom israelischen UN-Botschafter Gilad Erdan, der bei seiner Rede vor der UN-Generalversammlung einen gelben Stern mit der Aufschrift »Nie wieder« trug, über US-Präsident Joe Biden, der sagte, die Hamas habe »eine Barbarei begangen, die so folgenschwer wie der Holocaust ist«, bis hin zum israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, der gegenüber dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz davon sprach, dass »die Hamas die neuen Nazis« seien. Der US-Abgeordnete Brian Mast, ein Republikaner aus Florida, stellte in einer Rede vor dem Repräsentantenhaus überhaupt die Idee infrage, dass es »unschuldige palästinensische Zivilisten« geben könne. Er erklärte: »Ich glaube nicht, dass wir im Zweiten Weltkrieg so leichtfertig mit dem Ausdruck ›unschuldige Nazi-Zivilisten‹ hausieren gegangen wären.«

In der Tat nimmt der Antisemitismus häufig zu, wenn sich die Krise in Israel und Palästina verschärft – das Gleiche gilt aber auch für Islamophobie und den anti-arabischen Rassismus. Die unerhörte Gewalt der Anschläge vom 7. Oktober, die anhaltenden Luftangriffe und die Invasion des Gazastreifens sind verheerend und verursachen Leid und Angst in jüdischen und palästinensischen Communitys auf der ganzen Welt. Wir bekräftigen, dass jeder und jede das Recht haben muss, sich sicher zu fühlen, wo immer er oder sie lebt, und dass wir dem Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie Vorrang einräumen müssen.

Es ist nur verständlich, dass viele in der jüdischen Community an den Holocaust und frühere Pogrome denken müssen, wenn sie zu begreifen versuchen, was am 7. Oktober geschehen ist. Die Massaker und die Bilder, die danach veröffentlicht wurden, haben die tief im kollektiven Gedächtnis verwurzelte Erinnerung an den genozidiären Antisemitismus getroffen, von dem die jüngste jüdische Geschichte geprägt ist.

Die Berufung auf die Erinnerung an den Holocaust verstellt jedoch den Blick auf den Antisemitismus, dem Juden heute ausgesetzt sind, und sie verzerrt in gefährlicher Weise die Ursachen für die Gewalt in Israel und Palästina. Der Völkermord der Nazis ging von einem Staat – und seiner willfährigen Zivilgesellschaft – aus und richtete sich gegen eine winzige Minderheit. Daraus erwuchs ein Genozid, der sich auf den gesamten Kontinent ausweitete. Die Vergleiche der sich in Israel und Palästina entwickelnden Krise mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust stellen daher einen intellektuellen und moralischen Fehler dar – vor allem, wenn sie von politischen Verantwortungsträgern oder anderen Personen angestellt werden, die die öffentliche Meinung in hohem Maß beeinflussen. In einer Zeit, in der die Emotionen hochgehen, wäre es ihre Verantwortung, besonnen zu handeln und weder Angst noch Spaltungen zu schüren. Wir als Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben wiederum die Pflicht, die intellektuelle Integrität unseres Berufsstandes zu wahren und Menschen auf der ganzen Welt dabei zu unterstützen, diesen Moment zu verstehen.

Die israelische Führung und nicht nur sie benutzt den Holocaust, um Israels kollektive Bestrafung des Gazastreifens als Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei darzustellen. Damit befördert sie zugleich rassistische Erzählungen über die Palästinenser. Diese Rhetorik ermutigt dazu, die gegenwärtige Krise von jenem Kontext zu trennen, dem sie entwachsen ist. 75 Jahre Vertreibung, 56 Jahre Besatzung und 16 Jahre Blockade des Gazastreifens haben zu einer sich ständig verschärfenden Spirale der Gewalt geführt, die nur durch eine politische Lösung gestoppt werden kann. Es gibt keine militärische Lösung für den Konflikt zwischen Israel und Palästina. Jetzt ein Holocaust-Narrativ in dieser Frage in Stellung zu bringen, wonach das »Böse« mit Gewalt besiegt werden müsse, wird nur dazu führen, einen Zustand der Unterdrückung aufrechtzuerhalten, der schon viel zu lange andauert.

Darauf zu pochen, dass »die Hamas die neuen Nazis sind« – während man die Palästinenser kollektiv für die Handlungen der Hamas verantwortlich macht –, unterstellt jenen, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, tiefsitzende antisemitische Motive. Es impliziert zugleich, dass der gegenwärtige Angriff auf Gaza alternativlos sei, und stellt den Schutz des jüdischen Volkes gegen die Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts. Und die Berufung auf den Holocaust bei der Verurteilung jener Demonstranten, die ein »freies Palästina« fordern, schürt die Repression gegen die palästinensische Menschenrechtsbewegung genauso, wie sie der Vermischung von Antisemitismus mit der Kritik an Israel Vorschub leistet.

In diesem Klima wachsender Unsicherheit brauchen wir Klarheit über den Antisemitismus, damit wir ihn richtig erkennen und bekämpfen können. Klarheit brauchen wir aber auch, wenn wir uns mit den Ereignissen in Gaza und im Westjordanland auseinandersetzen. Und wir müssen diese gleichzeitigen Realitäten – den wieder aufkeimenden Antisemitismus und das Töten in Gaza sowie die eskalierende Vertreibung im Westjordanland – offen ansprechen, wenn wir uns in den öffentlichen Diskurs einschalten.

Diejenigen, die so schnell Vergleiche mit Nazi-Deutschland gezogen haben, möchten wir auffordern, genauer auf die Rhetorik der politischen Führung Israels zu achten. So sagte Premierminister Benjamin Netanjahu vor dem israelischen Parlament, dass »dies ein Kampf zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis ist« (ein gleichlautender Tweet seines Büros wurde später gelöscht); Verteidigungsminister Yoav Gallant verkündete: »Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.« Solche Äußerungen, genauso wie das weitverbreitete Argument, wonach es keine unschuldigen Palästinenser in Gaza gäbe, erinnern tatsächlich an vergangene Formen von Massengewalt. Diese Reminiszenzen aber sollten als Mahnung gegen das Töten dienen, nicht als Aufforderung, das Töten auszuweiten.

Als Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben wir eine Verantwortung, unsere Worte und unsere Expertise sensibel und mit Augenmaß einzusetzen – es gilt, aufwiegelnde Formulierungen, die weitere Unstimmigkeiten provozieren könnten, zu vermeiden und stattdessen einer Sprache und einem Handeln den Vorzug zu geben, die den Verlust weiterer Menschenleben zu verhindern helfen. Wenn wir uns also auf die Vergangenheit beziehen, müssen wir dies in einer Weise tun, die die Gegenwart erhellt und nicht verzerrt. Dies ist die notwendige Grundlage für Frieden und Gerechtigkeit in Palästina und Israel. Deshalb fordern wir alle Personen des öffentlichen Lebens, einschließlich der Medien, nachdrücklich dazu auf, derartige Vergleiche nicht mehr zu verwenden.

Karyn Ball (Professorin für Anglistik und Filmwissenschaft, Universität von Alberta), Omer Bartov (Samuel-Pisar-Professor für Holocaust and Genocide Studies, Brown University), Christopher R. Browning (emeritierter Professor für Geschichte, UNC-Chapel Hill), Jane Caplan (emeritierte Professorin für moderne europäische Geschichte, Universität Oxford), Alon Confino (Professor für Geschichte und Jewish Studies, Universität von Massachusetts, Amherst), Debórah Dwork (Direktorin des Center for the Study of the Holocaust, Genocide, and Crimes Against Humanity, Graduate Center-City University of New York), David Feldman (Direktor des Birkbeck Institute for the Study of Antisemitism, Universität London), Amos Goldberg (Jonah-M.-Machover-Lehrstuhl für Holocaust Studies, Hebräische Universität Jerusalem), Atina Grossmann (Professorin für Geschichte, Cooper Union, New York), John-Paul Himka (emeritierter Professor, Universität von Alberta), Marianne Hirsch (emeritierte Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft und Gender Studies, Columbia University), A. Dirk Moses (Spitzer-Professor für Internationale Beziehungen, City College of New York), Michael Rothberg (Professor für Englisch, Vergleichende Literaturwissenschaft und Holocaust Studies, UCLA), Raz Segal (Außerordentlicher Professor für Holocaust and Genocide Studies, Stockton University), Stefanie Schüler-Springorum (Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin), Barry Trachtenberg (Rubin-Lehrstuhl für jüdische Geschichte, Wake Forest University)

Dieser offene Brief erschien ursprünglich in der New York Review of Books. Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und Autoren.

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