Jesus, bist du’s?

von Sebastian Schmidt

514 wörter
~3 minuten
Jesus, bist du’s?
Anne Weber
Kirio
Matthes & Seitz, 2023, 215 Seiten
EUR 20,95 (AT), EUR 20,00 (DE), CHF 26,90 (CH)

Er hat »den Freudenpegel um mehrere Grade angehoben; die Konsequenzen werden sich erst im Laufe der nächsten Jahrzehnte oder Jahrhunderte zeigen«, und »die später Lebenden werden sie spüren, aber sie werden ihren Ursprung nicht kennen«: Mit »er« ist Kirio gemeint, der zerzauste Sonderling in Anne Webers gleichnamigen Roman, dessen überarbeitete Neuauflage der Verlag Matthes & Seitz nach dem erstmaligen Erscheinen des Titels 2017 bei S. Fischer kürzlich wagte.

Es fängt damit an, dass Kirio in einem Autobahntunnel geboren wird, nachdem die Mutter, so scheint es, per Telefonanruf mit ihm schwanger geworden war. Vielleicht rührt Kirios unverwüstliche Frohnatur aus dem Verharren im Tunnel, vielleicht schirmte ihn dieser genügend lange vom Licht der Welt ab, bis er eine Unverwüstlichkeit für später entwickeln konnte? Es ist nur eine der unzähligen Fragen, die Anne Weber aufwirft und die die Erzählerin im Versuch, ihre Omniszienz zu organisieren, immer wieder umkreist, aber nie ganz zufriedenstellend beantwortet. Sie sind bemerkenswerter Teil des Romans, die Erklärungen, die keine sind oder uns nicht genügen, denn wir wollen mehr.

Kirio wächst und stellt sich als Heiliger heraus in einer Zeit ohne Heilige. So verhindert der Junge (Selbst-)Morde, Diebstähle, Ungerechtigkeit und Armut, wo immer er in Erscheinung tritt. Schließlich kehrt er sogar die Zeit um und holt eine bei einem Unglück getötete Familie zurück ins Leben – behauptet jedenfalls der betroffene Vater. Dabei läuft Kirio auf Händen, schlägt Rad und ist auch in seiner Fahrigkeit, seinem Interesse gegenüber der Welt ein Verwandter Till Eulenspiegels. Allein, »es ging ihm nicht darum, zu stören«, Kirio tut all dies nebenbei wie ein verwuschelter Forrest Gump. Neben ihm steht eine weitere wichtige Instanz: die Erzählerin. Sie weiß alles, ordnet an und lässt andere zu Wort kommen. Wer sie selbst ist, weiß sie jedoch nicht. Ist sie Gott (und Kirio eine Art Jesus)? Eine Anstaltsinsassin mit dem Namen Brice Delisse? Ein ferner Planet? Immer wieder wird die Existenzfrage hinsichtlich Kirio und der Erzählerin gestellt, die Frage nach Material, Wesen und Sein; solipsistische Ideen werden beworfen mit Existenzialismus, Heiligenerscheinungen mit der Tour de France, es ist ganz wunderbar, das Ringen um den Fakt in diesem Buch. Oder ist Kirio in seiner Perfektion bloß ein Wunsch der Erzählerin nach etwas Fassbarem, etwas konkret Schönem, ihre immerhin größte Möglichkeit der Ausgestaltung von Wahrhaftigkeit, da wir nun mal keine Wahrheit in unseren Erzählungen finden können?

Jedenfalls hält uns der philosophische Roman immer wieder den Spiegel vor: Wie sehr wir uns an einem Mysterium oder vielmehr an seiner Unerklärlichkeit stören, bemisst auch unseren eigenen Anteil an der Erschaffung des Störenfriedtums in der Welt. Kirio ist auch in Szenen der Gewalt friedlich, reagiert unvorhersehbar und verwirrt seine Gegenüber. Seine Heiligkeit besteht darin, die Menschen an eine Veränderbarkeit der Welt in einem noch erträglichen Maß zu erinnern. Das Ende Kirios, falls es denn eines ist, ist so nachdenklich stimmend, offen und zart wie seine Person selbst.

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