Ein proletarisches Psychotrauma

von Robert Rotifer

Fotos: Michael Kerstgens

Mit ihrem Streik zwischen 1984 und 1985 forcierten britische Bergleute ein unerbittliches Kräftemessen mit der Regierung Thatcher. Tom Varley war einer von ihnen, er würde heute sofort wieder streiken.


3574 wörter
~15 minuten

Hey, lay your burden down,
Seems the last day of the miners’ strike
Was the Magna Carta in this part of town
(Pulp – »Last Day of the Miners’ Strike«)

Es gibt einen Artikel, der es verdient, geschrieben zu werden. Ein wehmütiger, aber kämpferischer Text über das 40-Jahr-Jubiläum des einjährigen britischen Minenarbeiterstreiks vom 6. März 1984 bis zum 3. März 1985. Ein epochemachender Arbeitskampf, schon damals begriffen als das letzte große Aufbäumen der britischen Arbeiterbewegung (ja, die maskuline Form, aus Gründen, auf die wir noch zurückkommen). Der ultimative Showdown zwischen dem Solidaritätsprinzip des proletarischen Zusammenhalts und Margaret Thatchers neoliberalem Monetarismus, endend in der Zerschlagung des Ersteren und der Durchsetzung des Letzteren. Und auch ein Beispiel dafür, wie weit bürgerliche Medien und die Staatsgewalt in der ältesten bestehenden Demokratie des Westens zu gehen bereit waren, um dieses Ergebnis durchzusetzen.

Solch ein Artikel könnte in ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf den Kollektivgeist der Streikenden münden. In die Hoffnungsbotschaft, dass diese Form der Mobilisierung immer noch möglich sei. Dass man aus den Fehlern der 1980er-Jahre lernen und sie in den Kämpfen der Zukunft vermeiden könne. Aber manchmal ist die Geschichte, die man sucht, nicht ganz die, die man findet.

Wir finden uns also stattdessen im Wohnzimmer einer kleinen Bleibe in der Seestadt Whitstable in Kent wieder. Sie ist Teil einer überschaubaren Siedlung von Häusern, die der örtlichen Gemeinde gehören, in einer Sackgasse am Ende eines Gewirrs rumpeliger Straßen, deren verwüstetes Pflaster den Besucher schon bei der Anfahrt spüren lässt, dass ebenjene Gemeinde nicht viele Gedanken an die hier lebenden Leute verschwendet. Der Mieter des kleinen Hauses ist ein Witwer in seinen mittleren Siebzigern namens Tom Varley. Er hat schlohweißes Haar, einen Schnauzer, trockenen Humor und einen nordenglischen Akzent. Den wird er nicht los, obwohl er nun schon seit knapp drei Jahrzehnten hier in Südengland wohnt. Sein kastenförmiger Oberkörper lässt eine athletische Vergangenheit erahnen. In seinen letzten Arbeitsjahrzehnten betrieb Tom nicht weit von hier ein kleines Fitnesscenter. »Es machte mich nicht reich«, sagt er, »aber es bezahlte die Rechnungen.« Seine Muskelkraft kam allerdings woanders her. Aus seinem früheren Leben als Soldat und Minenarbeiter, geboren und aufgewachsen in einem Dorf namens Airedale östlich der Stadt Castleford in West Yorkshire, gleich neben dem Kohlebergwerk im benachbarten Fryston. »Meine ganze Familie hat dort gearbeitet, mein Vater, mein Großvater«, sagt Tom, »das war alles, was es für uns gab. Die Mine.«

Mit 15 verließ Varley die Schule, verbrachte sechs Monate in der Kohlengrube, verspürte die Lust, »ein bisschen herumzureisen«, und tat das einzig andere, was einem jungen Mann seiner Herkunft als Alternative offenstand: Er ließ sich in die Army einschreiben. Nach zwölf Jahren Militärdienst kehrte er 1973 heim und ging direkt zurück in die Mine, in der er bis zu deren Schließung im Dezember 1985 arbeitete. »Wenn man mir sagen würde: ›Die Minen werden morgen wieder aufgesperrt‹, wäre ich morgen wieder dort«, sagt er, »ganz egal, wie alt ich bin. Freunde so wie dort findet man nie wieder. Es war schmutzig, gefährlich, aber eine Brüderschaft. In der Zeche in Fryston kannte jeder jeden. Wir hatten schon als Kinder im Dorf miteinander gespielt, gingen zusammen zur Schule, arbeiteten zusammen, starben zusammen. Und alle Häuser dort gehörten dem Bergwerk.« Dieses wiederum gehörte, so wie alle Minen, dem 1947 unter der Nachkriegs-Labour-Regierung von Clement Attlee verstaatlichten National Coal Board.

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