Der 25. April 1974 in Lissabon wird in der hiesigen kritischen Geschichtskultur vergleichsweise wenig beachtet. Das verwundert, ist mit diesem Datum doch der Beginn eines revolutionären Prozesses in einem westeuropäischen Land verbunden, der wie ein Playbook dessen wirkt, was eine Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnen konnte: innere Risse einer in das Verfallstadium eingetretenen Diktatur; verzweifelte Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Gruppen der Staatseliten und der Besitzenden; Streitkräfte, die nicht nur als Repressionsorgan, sondern auch als Beschleuniger des Umbruchs fungieren; die Verzahnung mit Außenpolitik und Krieg; die ambivalente Rolle etablierter Parteien, auch der Linken, die wie im Falle der Kommunistischen Partei mit dem fremdelte, was eigentlich zu ihrem Sehnsuchtshorizont gehört hätte; eine tiefe wirtschaftliche Krise; sowie zuletzt das Erwachen, die Politisierung und die Mobilisierung der Massen in einem Maß, das weit über die gegebenen Institutionen und Kanäle hinausging, eigene Formen der politischen Praxis schuf und »Macht« neu definierte. Franz Marek, Chefredakteur des Wiener Tagebuch und umfassend belesen in der breiten marxistischen Literatur zum historischen Revolutionsvergleich, warf wenige Monate nach dem April 1974 in seiner Kolumne »Chronik der Linken« ein konturenscharfes Schlaglicht auf die Nelkenrevolution.
Franz Marek
Portugal
»Das rückständige Portugal«, so hieß es in einem Korrespondentenbericht, »erlebt jetzt gleichzeitig 1789, 1917, 1936 und 1968«. Der großen bürgerlich-demokratischen Revolution von 1789 folgte rasch der reaktionäre Rückschlag im Thermidor; die grandiosen Errungenschaften des Oktobers 1917 wurden zu einem beachtlichen Teil durch das autoritäre Stalin-Regime zugeschüttet; der Volksfront von 1936 folgte der Sieg des Faschismus und dem Mai 1968 der Zerfall der Neuen Linken. Was wird dem 25. April folgen, dem Sturz des Faschismus in Portugal, der von der Linken Europas mit Recht als das glücklichste Ereignis der letzten Jahre gewertet wird?
Er ist gewiß nur möglich gewesen, weil der Kolonialkrieg für die großen Massen der Bevölkerung und der Armee, aber auch für Teil der Bourgeoise, unerträglich geworden war. Aber schon am 26. April brachen alle Widersprüche, Differenzen und Konflikte durch, die durch eine faschistische Diktatur 48 Jahre lang unterdrückt worden waren. Innen- und außenpolitische Probleme verschränkten sich ineinander, vieles scheint provisorisch und niemand kann heute Auskunft erhalten, welche Befugnisse die Provisorische Regierung gegenüber der Junta und dem sogenannten Staatsrat besitzt, der aus zivilen Politikern und Militärs zusammengesetzt ist.
[...]
[Es] bemühen sich Teile des Kapitals mit allen Kräften, ein ökonomisches Chaos zu erwirken, die galoppierende Inflation – mehr als 20 Prozent – zu beschleunigen, durch Kapitalexporte und Sabotage die ohnehin kritische wirtschaftliche Lage zu verschärfen. Andererseits ist es verständlich, daß die angestauten Energien der Arbeiter, die erst jetzt wieder Gewerkschaften bilden konnten, sich in zahlreichen Streiks entluden. [...] Die Kommunistische Partei, nach dem Sturz des Faschismus die einzige wirklich große und straff organisierte Gruppierung, fürchtet vor allem ein zweites Chile, ein wirtschaftliches Chaos, das die Mittelschichten verärgert und Teile der Armee für konterrevolutionäre Pläne empfänglich macht.
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[Die Kommunisten] müssen sich mit der Tatsache abfinden, daß linksradikale Organisationen entstanden sind, die sich gleichfalls als kommunistisch bezeichnen. Diese haben übrigens in Portugal im antifaschistischen Kampf eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. An ihrer Großkundgebung am 25. Mai in Lissabon haben nicht wenige Soldaten und Matrosen teilgenommen.
[...]
Die Entscheidung über den portugiesischen Faschismus ist in den Kolonien gefallen; ihre Zukunft dürfte für die weitere Entwicklung in Portugal entscheidend sein.
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