Schauspieler Fabian Hinrichs gehörte zu Polleschs engsten Weggefährten. (Foto: T. Aurin)

Der Alltag, das ist der Unfall

von Rafael Jakob

Nach René Polleschs Tod wird »ja nichts ist ok« die letzte Zusammenarbeit zwischen ihm und Fabian Hinrichs bleiben. In der Wiener-Festwochen-Inszenierung dient eine Vierer-WG als Sinnbild sozialer Konflikte.


887 wörter
~4 minuten

Fabian Hinrichs betritt, schon jetzt nass und abgekämpft, die Bühne des Burgtheaters vom Zuschauerraum aus. Dann verschwindet er hinter dem Bühnenvorhang. Mit einem Hilfeschrei nimmt er von dort aus Kontakt zum Publikum auf. Der Vorhang hebt sich: Hinrichs in einem schizophrenen Kampf mit sich selbst. Die Szene: eine Art Bungalow, davor zwei nett-bunte Campingstühle und ein kleiner quadratischer Pool, daneben, was nach einer eigenartigen Felsformation aussieht; sandsteinerne Brocken, die Gott weiß wie so aufeinander zum Liegen gekommen sind. Das massivste Element der Bühne von Anna Viebrock ist das einzige, in dem sich noch Bewegungsenergie drängt, während alles sonst wie tot und erstarrt, verkrustet und verkeilt wirkt.

Vor dieses felsige Massiv ist die winzige Geschichte, der winzige Gegenwartssplitter gestellt, um den es in den 80 Minuten dieses Abends gehen wird, wie vor den Horizont der Jahrmillionen einer Erd- und Menschheitsgeschichte. Hinrichs erzählt sie – im Stile vielleicht von Kubricks 2001: A Space Odyssey – im epischen Imperfekt als Geschichte des »tool-making animal«, das inzwischen über die Sprachassistenten Bixby und Alexa ein trauriges Gespräch mit Kühlschränken und Co begonnen hat. Insbesondere erzählt er sie aber als Geschichte des Unterschlupf suchenden, sich in immer neuen Bauformen des Sozialen einrichtenden Tiers. Eine Vierer-WG ist die traurige Heldin dieser Einrichtungsgeschichte, die zugleich eine Gewaltgeschichte ist. »Vor 560 Millionen Jahren war das Leben noch gewaltfrei.« Heute wird »in WGs häufiger gemordet als in Familien«.

Hinrichs und Pollesch

ja nichts ist ok ist die letzte einer Reihe großer gemeinsamer Arbeiten des Schauspielers und Regisseurs Fabian Hinrichs und des Regisseurs und Dramatikers René Pollesch. Einsamkeit, die Sehnsucht nach Kollektivierung und die (A-)Sozialformen, die der Kapitalismus stiftet, sind die Themen. Nicht um eine transzendentale, wohl aber um eine soziale Obdachlosigkeit geht es hier.

Milo Rau und die Freie Republik der Wiener Festwochen haben das Stück, das am 11. Februar dieses Jahres an der Berliner Volksbühne uraufgeführt wurde, nach Wien unter das Dach des Burgtheaters geholt. Als Ersatz für eine Auftragsarbeit, die Pollesch zu den Festwochen 2025 beisteuern sollte. Am 26. Februar ist René Pollesch verstorben. Ein Schock für alle, die mit seinem »Theater aus dem Bandprinzip«, wie er es einmal genannt hat, in Berührung kommen durften.

Fabian Hinrichs hat in einem offenen Brief die überschnellen Reaktionen beklagt, die auf Polleschs Tod gefolgt sind und die diesen Tod damit auch immer irgendwie pathetisch verwertet haben: »Warum darf dieser dunkle Raum der Trauer nicht erst einmal dunkel bleiben, warum wird mitten in der Nacht die Glühbirne der Erkenntnis angeschaltet? Und ich frage mich: Warum nicht Nachrufe erst in einem Monat, zwei Monaten, einem Jahr?« ja nichts ist ok wird an diesem Mittwoch gleich zweimal gezeigt. Anschließend gibt es eine kleine Party, auf der Milo Rau einen Text von Pollesch vorliest. Obwohl Milo Rau das ganz unprätentiös tut, setzt man sich auch hier, im »Genussfoyer« der Burg, der Gefahr der Pathos-Verwertung aus.

Die von Pollesch/Hinrichs et al. erfundene Bühnenfigur war immer auch eine melancholische Figur, eine Figur des Lamento. Doch während ihre Klage an anderen Abenden im zuweilen intensiven Kontakt mit dem Publikum etwas Furioses, Flirrendes, Lautes haben konnte, war sie noch nie so nach innen gekehrt, noch nie so langsam, leise und monoton, noch nie so einsam wie jetzt. Worauf diese Figur zeigt, ist der Alltag als Trümmerplatz. Wenn die Bühne sich dreht und sich die Bungalow-Kulisse zu zwei anonymen Räumen einer Wohngemeinschaft im ersten Obergeschoss wandelt, und besonders, wenn sie in Midnight-Blue getaucht wird und ein beulig-runder Mond am Bühnenhimmel aufgeht, dann werden die paar Wäschehaufen, der milchig strahlende sprechende Kühlschrank, der aufgeklappte Laptop mit der Spotify-Playlist, auf der das friedlich-zarte Autumn Leaves von Nat King Cole und die autotunige Pop-Rap-Ballade Grabstein von Kiki aneinanderstoßen, zu einem Rätselbild.

Zerrüttete Gemeinschaft

Ich schau dir in die Augen gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang heißt eine frühere Arbeit von Pollesch/Hinrichs. Von einem Verblendungszusammenhang zu sprechen, das ist die Diagnose von ja nichts ist ok, reicht jetzt nicht mehr aus. Der Kapitalismus verlötet heute das Soziale. Er produziert Gemeinschaft im Modus der Erregung als Nebenprodukt der Verwertung von möglichst jeder sozialen Rührung und Regung. Während Geräte sich im Zeichen von Smart Home zunehmend erfolgreich vernetzen, wird die Hausgemeinschaft, die Hinrichs zeigt, gerade noch so von alltäglichen Boshaftigkeiten und verbalen Gewalttätigkeiten zusammengehalten. Im einen Satz streitet man darüber, ob man „pro Israel“ sein kann, im nächsten Satz über die Haare im Abfluss der Dusche.

Wenn Hinrichs alle Mitbewohner:innen in einem kraftlosen, sich von Figur zu Figur schleppenden Slapstick selbst spricht, um dann immer wieder kommentierend-erzählend an den Bühnenrand zu treten, dann folgt das Stück einer für Pollesch fast ungewöhnlich klassischen Form des epischen Theaters. Bertolt Brecht hat diese Form einmal anhand einer Straßenszene erläutert: Ein Unfall geschieht, jemand hat ihn gesehen und versucht, ihn theatral-erzählend für andere so zu wiederholen, dass sie sich ein Urteil bilden können. Bei Pollesch/Hinrichs ist der Alltag der Unfall. Alle sehen ihn – immer wieder. Das Theater hat dann, wie es Pollesch einmal formuliert hat, einen »Gestus des Scharfstellens« zu entwickeln. Polleschs Band aus Licht-, Ton-, Text-, Kostüm- und Bühnenbildkünstler:innen um Hinrichs gelingt das.

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