Drei Monate vor der Nationalratswahl im Herbst zeigt sich die politische Großwetterlage in Österreich nahezu unverändert. Seit Jänner 2023 liegt die FPÖ bei allen Demoskopen unangefochten vorne, zuletzt stabil bei Werten um die 30 Prozent. Es bräuchte wohl schon ein mittelgroßes innenpolitisches Beben, damit ihr Platz eins noch streitig gemacht werden kann. Umfragen, die die SPÖ zumindest in Schlagdistanz zu den Freiheitlichen sehen, fehlen bislang. Das von den Sozialdemokraten herbeigesehnte Kopf-an-Kopf-Rennen wird so aller Voraussicht nach Chimäre bleiben.
Das hat mehrere Ursachen, von denen eine der gewichtigeren zweifellos im Verhältnis Andreas Bablers zu seiner eigenen Partei liegt. Auch ein Jahr nach der Wahl des linken Underdogs zum SPÖ-Chef hat sich an dessen grundlegendem Problem nichts geändert: Babler verfügt über keine nennenswerte Machtbasis in der Partei, sein Schicksal hängt nach wie vor am Wohlwollen der Wiener Landesorganisation und der Gewerkschaft. Zwar haben sich die beiden Flügel mit dem linken Parteichef mittlerweile arrangiert, allerdings nicht ohne ihm regelmäßig die Grenzen aufzuzeigen: der Chef der sozialdemokratischen Gewerkschafter, Josef Muchitsch, etwa, als er Babler vor wenigen Wochen ausrichten ließ, mit der Forderung nach einer 32-Stunden-Woche den »Bogen überspannt« zu haben; oder der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, der Babler und seine deutlichen Worte zur Kleingartenaffäre ins Leere laufen ließ. Wohl auch aus Rücksicht auf die Wiener Landesorganisation vermied es Babler, Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer aufgrund seiner Rolle bei der Signa-Pleite aus der Partei zu komplimentieren. Das forderte stattdessen ausgerechnet Roland Fürst, Adjutant des burgenländischen Landeshauptmanns Hans Peter Doskozil vom rechten Rand der Partei. Zuletzt zeigte die Listenerstellung für die Nationalratswahl, dass die unterschiedlichen Machtzentren in der SPÖ zwar auf allerlei Interessen Rücksicht nehmen können, wenn sie denn nur wollen – nur nicht auf jene von Andreas Babler.
»Wenn alle mitziehen, ist einiges drin«, hatte Babler dabei selbst noch vor einem Jahr im TAGEBUCH-Gespräch zu Protokoll gegeben. Heute verfestigt sich eher der Eindruck, der Parteichef würde zwar die unmittelbar drängenden Fragen unserer Zeit richtig adressieren, allerdings in einer Partei, die für deren Beantwortung schlicht nicht zu gebrauchen ist. Die SPÖ, sie schwankt inhaltlich und habituell zwischen den neuen Akzenten ihres Vorsitzenden und der machtpolitischen Routine des alten Apparats: zwischen hemdsärmeliger Anti-Establishment-Attitüde und staatstragender Verantwortungsrhetorik, zwischen der Hoffnung auf »Change« (mit Herz) und dem Versprechen von Stabilität. Die Wählerinnen und Wähler aber wollen zuerst einmal Klarheit. Und für diese sollte die Partei schleunigst sorgen. Wenn sie es Babler weiterhin nicht erlaubt, seine Vorstellungen ohne Querschüsse auszurollen, setzt sie möglicherweise auch noch den zweiten Platz aufs Spiel.
»Die SPÖ, sie schwankt inhaltlich und habituell zwischen den neuen Akzenten ihres Vorsitzenden und der machtpolitischen Routine des alten Apparats.«
Gelingt es Andreas Babler hingegen, diesen zweiten Platz zu holen – unter Umständen auch noch deutlich –, dann stünden ihm sogar die Tore zum Bundeskanzleramt weit offen. Und das könnte so kommen: Stand heute gibt es in der ÖVP tatsächlich keine Mehrheit für eine Koalition mit, vor allem aber unter einer FPÖ mit Herbert Kickl an der Spitze. Umgekehrt gilt es als ausgeschlossen, dass die FPÖ – im Unterschied zum Februar 2000, als Jörg Haider Susanne Riess-Passer den Vortritt ließ, um den Weg für die erste schwarz-blaue Koalition frei zu machen – auf Kickls Anwartschaft auf den Kanzler-Posten verzichten würde. Wohl noch nie seit ihren Gründungstagen war die FPÖ nach innen wie nach außen mehr Monolith als heute.
Anzunehmen ist daher, dass in einer solchen Anordnung der Druck auf alle Seiten, eine Neuauflage der großen Koalition in Angriff zu nehmen, notwendigerweise unter Beteiligung oder zumindest Duldung von Grünen oder Neos, übergroß würde. Auf ÖVP-Chef Karl Nehammer (oder seine präsumtive Nachfolgerin) über die Länder und den Wirtschaftsbund, auf Andreas Babler vor allem über seine Wiener Landesorganisation und den Österreichischen Gewerkschaftsbund, auf beide Parteien schließlich über den Bundespräsidenten und den medialen Mainstream.
Der politische Preis eines solchen Szenarios wäre freilich hoch – und zugleich bezeichnend für die Kräfteverhältnisse in Österreich. Angesichts der unangetasteten rechts-rechtsextremen Mehrheit im Land müsste mit Andreas Babler ausgerechnet der am weitesten links stehende Parteichef in der SPÖ seit Bruno Pittermann das vermutlich rechteste Regierungsprojekt unter sozialdemokratischer Beteiligung seit 1945 umsetzen. Wie ein solches Projekt aussieht, lässt sich derzeit in Deutschland in Anschau nehmen. Dort regiert die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP, die sich programmatisch auf nicht mehr als einen Minimalkompromiss aus Schuldenbremse, Aufrüstung und Cannabislegalisierung festlegen konnte, seit Monaten ohne gesellschaftliche Mehrheit. Währenddessen führt die unter Friedrich Merz merklich radikalisierte Union vor der neofaschistischen Alternative für Deutschland (AfD) alle Umfragen an, im Bundestag hätten die beiden Parteien aktuell eine Mehrheit.
Keine guten Aussichten – zumindest nicht für jene Teile der gesellschaftlichen Linken, deren Sehnsucht darüber hinausgeht, Herbert Kickl bloß weitere fünf Jahre als Kanzler zu verhindern. Für sie hat sich durch die bisherigen Ergebnisse im Superwahljahr allerdings längst eine (auch wahlpolitische) Alternative aufgetan. In der Steiermark zeigt die KPÖ schon lange, dass sie nicht nur die FPÖ auf die Plätze verweisen kann, sondern auch in der Lage ist, die politische Landschaft strukturell zu verändern. In Graz gibt es seit drei Jahren eine satte rot-rot-grüne Mehrheit, in der Stadt Salzburg seit diesem Jahr auch. Da wie dort spielen die leidigen Neos keine Rolle mehr, während die Sozialdemokraten unter den KP-Gewinnen zuletzt nicht gelitten haben.
Vielleicht liegt darin die eigentliche Chance in diesem Herbst: dass sich mit der KPÖ nach Jahrzehnten wieder eine linke Opposition bundesweit etablieren könnte, die dazu in der Lage ist, an den Kräfteverhältnissen im Land tatsächlich etwas zu ändern.
Das Potenzial, einen Paradigmenwechsel einzuleiten, es wäre vorhanden – auch für die Linke insgesamt. Zu lernen gäbe es genug, vordringlich, den zweiten Schritt nicht vor dem ersten zu machen und zunächst für fortschrittliche Mehrheiten zu sorgen, ehe man zur Macht strebt. Alle anderen Strategien haben dazu geführt, dass die FPÖ heute die unangefochtene Nummer eins ist.
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