MeToo und Literatur der Zwischenkriegszeit
von Iuditha Balint
KRITIK & ZÄRTLICHKEIT #5 | Zur Frage, ob Literatur Teil einer sozialen Bewegung sein kann
Im Sommer 2015 beendete ich meine Dissertation und konzipierte mein nächstes Buchprojekt. Lesen, Schreiben, Binge-Watching. James Bond, Liebling Kreuzberg, Adelheid und ihre Mörder, Mad Men. Einige Zeit zuvor hatte ich einen Sammelband herausgegeben, für den die Literaturwissenschafterin Franziska Schößler einen bemerkenswerten Artikel über die Arbeit von Sekretärinnen beigesteuert hatte, der mich erstaunt hat feststellen lassen: Die Literaturgeschichte der Sekretärin muss noch geschrieben werden. Also wollte ich sie schreiben. (Das tue ich immer noch.) Darum ging es damals 2015. Worum es nicht ging? Um #MeToo. Natürlich hatte ich vor, über Ökonomien des Begehrens und ungleiche Geschlechterverhältnisse nachzudenken. Der Hashtag #MeToo entstand aber erst 2017, er verdeutlichte das Ausmaß von sexuellen Übergriffen an Frauen am Arbeitsplatz wie kein anderer Ausdruck zuvor und führte zu einer weltweiten sozialen Bewegung.
Kann Literatur Teil einer sozialen Bewegung sein? Natürlich. Ich denke an die Literatur der Arbeiter:innenbewegung. Aber auch die Texte, die sich in der Zwischenkriegszeit Frauen in Dienstleistungsberufen widmen, können als Beiträge zur frühen Frauenbewegung in den Blick genommen werden. Gina Kaus’ Front des Lebens (1928) versteht sich sogar als solche. Aber auch Rudolf Braunes Das Mädchen an der Orga Privat (1930), Irmgard Keuns Gilgi, eine von uns (1931), Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1932) und viele andere Texte heben die ästhetische und emotionale Arbeit weiblicher Angestellter hervor, diese intime Arbeit, die die Ordnungen und Logiken männlich kodierter Arbeitswelten infragestellt, aber auch Ungleichheiten erzeugt, weil sie den Logiken häuslicher Reproduktionsarbeit viel zu ähnlich ist.
Die Sekretärin als Mutter, Ehefrau oder Hausdrache, die Narrative sind bekannt. Die Belästigungen der Chefs, sexuelle Gewalt, die Frau als Freiwild und unterschiedliche Wege, damit umzugehen, Komplizinnenschaften zu bilden, den Klassenkampf anzusteuern, die Kunst des Täuschens zu lernen – das ist aus der Literatur der weiblichen Angestellten in der Weimarer Republik kaum wegzudenken. Und heute? Vielleicht ist es auch in dieser Hinsicht eine Wohltat, dass diese Werke heute wiederentdeckt werden.
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