»Ich möchte nicht ängstlich durch die Welt laufen«

von Samuel Stuhlpfarrer

Foto: Pandora/Röhner

Mitte Oktober kommt Andreas Dresens neuer Film »In Liebe, Eure Hilde« in die Kinos. Ein Gespräch über späte Gerechtigkeit, Glück mit dem Wetter und den Geburtsfehler der deutschen Einigung.


3943 wörter
~16 minuten

Samuel Stuhlpfarrer | In Ihrem neuen Film In Liebe, Eure Hilde erzählen Sie die Geschichte Hilde Coppis, einer Angehörigen der von den Nazis so bezeichneten Widerstandsgruppe »Rote Kapelle«. Sie und ihr Mann Hans werden im September 1942 von der Gestapo verhaftet, in Haft bringt sie den gemeinsamen Sohn Hans – »Hänschen«, wie sie ihn nennt – zur Welt. Sie wird wegen »Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen« im Jänner 1943 zum Tode verurteilt und im Dezember desselben Jahres hingerichtet. Wie kamen Sie zu diesem Stoff – oder wie kam der Stoff zu Ihnen?

Andreas Dresen | Der Stoff ist über meine Drehbuchautorin Laila Stieler zu mir gekommen, die sich schon länger mit Frauen im Widerstand beschäftigt hatte. Man kennt in Deutschland natürlich Sophie Scholl, man kennt Stauffenberg, aber es gab gerade um die sogenannte Rote Kapelle eine große Anzahl sehr tapferer, toller Frauen, die da mitgemacht haben und die weiß Gott nicht nur Kaffee gekocht haben. Laila hatte ursprünglich einmal die Absicht, eine Fernsehserie daraus zu machen. Das haben wir allerdings nicht finanziert gekriegt. Daher entstand, zunächst als Pilot gedacht, das Projekt über Hilde. Alle, die das Drehbuch gelesen haben, waren der Meinung, dass dieser Stoff eher etwas für die große Leinwand ist, und so kam dieses Drehbuch zu mir. Ich wiederum kannte Hilde und Hans Coppi zumindest vom Namen und wusste grob darum Bescheid, was sie gemacht hatten. In der DDR, wo ich groß geworden bin, waren das durchaus bekannte Namen. Es gab Straßen und Schulen, die nach ihnen benannt waren. Aber natürlich kennt man damit immer noch nicht die konkrete Geschichte. Die ist mir allerdings sehr nahegekommen, als ich die erste Fassung des Drehbuchs gelesen habe. Ich habe mich in diese Hauptfigur sofort verliebt und dachte, über die würde ich wirklich gerne einen Film machen.

SSt | Sie erzählen diese Geschichte in zwei auseinanderlaufenden Strängen: Der Film beginnt mit der Verhaftung der hochschwangeren Hilde Coppi. Danach begleiten wir sie chronologisch vom ersten Verhör bis zur Hinrichtung. Verschränkt ist diese Erzählung mit einem zweiten Strang, der in die entgegengesetzte Richtung verläuft: Libertas »Libs« Schulze-Boysen eröffnet den Mitgliedern der Gruppe am Strand des Lehnitzsees zunächst, dass ihr Mann Harro »weg« ist – wir befinden uns hier also unmittelbar vor dem Auffliegen der ganzen Gruppe und bewegen uns zurück, sehen, wie Hilde erste Widerstandsaktivitäten setzt, danach erst, wie sie in Kontakt zur Gruppe kommt. Auch die Liebesgeschichte von Hilde und Hans erschließt sich in entgegengesetzter Chronologie zu ihrem Anfang hin. Das ermöglicht ein gutes Ende: Nicht die Hinrichtung steht da, sondern eine Szene auf einer Hochzeit in einem Bootshäuschen, Hans und Hilde kommen sich erstmals näher. Hatten Sie und Laila Stieler das von Anfang an so geplant?

AD | Nein, tatsächlich nicht. Als ich die erste Fassung des Drehbuchs bekommen habe, war das komplett chronologisch erzählt und begann mit dem Kennenlernen, mit der Liebesgeschichte zwischen Hilde und Hans und mit der Zeit im Widerstand. In der zweiten Hälfte wurde dann erst die Gefängnisgeschichte, vor allen Dingen in der Beziehung zwischen Hilde und dem Baby erzählt. Das Buch hatte schon da die ganzen wunderbaren, berührenden Szenen, die mir so gefallen haben. Aber an der Struktur hatte ich Zweifel, weil ich den Eindruck hatte, dass der Film in zwei Hälften zerbricht. Ich habe Laila, mit der ich seit über 40 Jahren befreundet bin und zusammenarbeite, dann ein bisschen flapsig vorgeschlagen, wir könnten doch in der Mitte beginnen mit der Verhaftung und das Gefängnis vorwärts, die Liebesgeschichte hingegen rückwärts erzählen. Was die Konsequenz hat, dass man eben nicht mit der Hinrichtung endet, sondern mit dem ersten Kennenlernen der beiden. Sie fand die Idee sofort gut, hat das ausprobiert, und dabei ist es dann geblieben. Das hat auch den Vorteil, dass man im Gefängnis die graue, sehr beengte Welt mit der Weite des sommerlichen Himmels durchbrechen kann. Und das ist manchmal auch ganz schön und hilft dem Zuschauer vielleicht, die sehr heftigen Szenen im Gefängnis besser zu ertragen.

SSt | Das fand ich auch auffällig: Der Kontrast zwischen Enge und Weite, der je unterschiedliche Umgang mit Farbe und Licht – Verhöre, Gefängnisalltag etc. sind grau und kalt coloriert, der Alltag der Widerstandsgruppe leuchtet dagegen in hellen Farben, es gibt viele Naturaufnahmen, es scheint immer die Sonne. Erst am Ende, vor der Hinrichtung im Gefängnishof, streifen Hildes Gesicht Sonnenstrahlen, da kommen sich diese beiden Ebenen nahe.

AD | Das war etwas, das ich mit der Kamerafrau Judith Kaufmann, die eine großartige Künstlerin ist, in der Folge erarbeitet habe. Es war schnell klar, dass diese drehbuchstrukturelle Entscheidung künstlerische Konsequenzen für unsere Optik hat. Und dass wir diese Ebenen sowohl von der Lichtbestimmung her als auch von der ganzen Art, wie sie gefilmt sein sollten, wie wir also Himmel, wie wir Landschaft darstellen wollen, trennen werden. Wir haben uns von dem wunderbaren deutschen Stummfilm Menschen am Sonntag inspirieren lassen, der den Alltag in Berlin in den Jahren 1929/30 auf eine sehr lebendige Art zeigt. Wir haben uns auch an diesen Bildern bedient und sie an wenigen Stellen sogar zitiert. Es war uns klar, dass wir bei einer so herzzerreißenden Geschichte Momente innerer Heiterkeit brauchen, weil das sonst nicht erträglich ist. Beim Dreh hatten wir auch noch einigermaßen Glück mit dem Wetter, das kommt ja immer dazu.

SSt | Das Schlusswort, vor der allerletzten Szene, gehört Hans Coppi junior, der nach der Hinrichtung von Hans und Hilde bei den Großeltern aufwächst. Wie sehr war er in die Entstehung des Films eingebunden?

AD | Er war von Anfang an beteiligt, schon während der Drehbucharbeit war er Laila Stieler ein ganz enger Gesprächspartner. Hans ist Historiker gewesen und hat sich zeitlebens mit der Geschichte der sogenannten Roten Kapelle beschäftigt, natürlich auch mit der Geschichte seiner Eltern. Er hat uns sein Archiv geöffnet, wir hatten Briefe zur Verfügung, die wenigen Fotos, die es gibt. Vor allen Dingen aber war er für uns da, und das war fast das Schönste. Als ich ihn getroffen habe, hat es mich extrem gerührt, ihn zu erleben. Er ist so ein zarter, feiner, liebevoller Mensch – ich habe in ihm immer seine Mutter gesehen, und das war für mich wunderschön. Ich dachte, näher kann ich Hans und Hilde gar nicht kommen. Liv Lisa Fries, die im Film Hilde spielt, hat ihn später auch getroffen. Ihr ging es ganz ähnlich wie mir.

Natürlich hat Hans den fast fertigen Film vorab in einem Berliner Kino gesehen. Das war sehr rührend, weil er dabei mit einer Phase seines Lebens konfrontiert gewesen ist, die er zwar miterlebt hat, an die er sich aber nicht erinnern kann, er war ja erst acht Monate alt, als seine Mutter hingerichtet wurde. Ich glaube, für ihn ist dieser Film ein bisschen wie eine späte Gerechtigkeit. Später bei der Berlinale habe ich ihn auf die Bühne geholt: Da waren 2000 Leute im Saal, die ihn mit Standing Ovations begrüßt haben, und er hat die Faust in den Himmel gereckt. Das war ein wundervoller Moment, der mich zu Tränen gerührt hat, weil ich das Gefühl hatte, jetzt endlich, nach über 80 Jahren, wird die Lebensleistung seiner Eltern in ganz Deutschland anerkannt. Für mich sind solche Momente wichtiger als der Film selbst. Ehrlich gesagt, als Filmemacher will man so etwas erleben.

SSt | Im Westen, also in der Bundesrepublik, und auf ähnliche Weise, wenn auch mit anderen Konjunkturen, in Österreich wurde der kommunistische Anteil am Widerstand gegen die Nazis jahrzehntelang bagatellisiert. Zugleich fällt auf, dass in Ihrem Film die Partei für die Widerstandstätigkeit der Gruppe um Hans und Hilde keine Rolle spielt – in starkem Kontrast zu offiziellen Darstellungen des politischen Widerstands in der DDR.

AD | In unseren Begegnungen hat Hans Coppi immer gesagt: »Wenn ich einen Wunsch äußern darf, dann zeigt meine Eltern bitte als das, was sie gewesen sind, als Menschen.« Während des Kalten Krieges wurden die Mitglieder der sogenannten Roten Kapelle im Osten zu überlebensgroßen kommunistischen Widerstandskämpfern stilisiert. Und während sie vom ostdeutschen System auf diese Weise vereinnahmt wurden, galten sie in der Bundesrepublik als Vaterlandsverräter, schließlich hatten sie für die Sow­jetunion spioniert. Der Staatsanwalt, der Hilde und Hans Coppi zum Tode verurteilt hatte, war noch in den 1960er-Jahren aktiver Kommunalpolitiker in der BRD. Es hat bis 2009 gedauert, bis der Deutsche Bundestag die Urteile gegen die Rote Kapelle aufgehoben hat. In gewisser Weise ist die Geschichte von Hilde und Hans und die von vielen anderen Mitgliedern dieser Widerstandsgruppe über viele Jahre vereinnahmt und manipuliert worden. Hans hat sich eigentlich gewünscht, dass wir das vom Kopf auf die Füße stellen, und mir selbst war es immer wichtig, keine Widerstandskämpfer zu zeigen, die 24 Stunden, sieben Tage die Woche nur an Widerstandskampf denken, sondern dass das normale junge Leute sind. Die gehen baden, die haben Sex, die wollen eine Familie gründen. Und auf der anderen Seite wollte ich auch die Nazis anders zeigen – nicht bloß durch die Gegend ziehende, prügelnde Gestapo-Horden, sondern auch Menschen, die durchaus eine Distanz dem System gegenüber empfinden, aber sich aus unterschiedlichen Gründen nicht zu rühren trauen, vielleicht weil sie ängstlich sind. Ich bin der Überzeugung, dass ein System wie das Nazi-Regime von der überwiegenden Zahl der Opportunisten getragen wird, nicht von denen, die laut sind, sondern von denen, die leise sind, die es einfach nicht wagen, etwas zu sagen.

Hans (Johannes Hegemann) und Hilde (Liv Lisa Fries) am Lehnitzsee. Dresen: »Mir war es wichtig, keine Widerstandskämpfer zu zeigen, die 24 Stunden, sieben Tage die Woche nur an Widerstandskampf denken.« (F.: Pandora Film / Frédéric Batie)

SSt | Sie sind bekannt dafür, am Set häufig auf Improvisation zu setzen und ihrem Cast und allen an der Produktion Beteiligten viel Freiheit zu lassen. Im Gesprächsbuch Glücks Spiel, das Sie mit Hans-Dieter Schütt veröffentlicht haben, sagen Sie, dass ansonsten die Gefahr bestehe, dass alles zu glatt würde und das »Feuer« fehle. Wie war das bei so einem historischen Stoff wie In Liebe, Eure Hilde?

AD | Da stößt man natürlich an seine Grenzen. Die Sets etwa hatten wir aufgrund des schmalen Budgets nur bis zu einem bestimmten Punkt gebaut, und das limitiert die Freiheit der Schauspieler mit Sicherheit. Nichtsdestotrotz habe ich im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten versucht, die Schauspieler von einem historischen Sprechen zu befreien. Man sieht das an vielen Stellen, an der Badestelle ganz zu Anfang zum Beispiel, wenn die Frauen sich über Schwangerschaften unterhalten: Da reden die jungen Schauspielerinnen durcheinander, und da reden sie auch, wie es ihnen gerade einfällt. Später gibt es eine ähnliche Sequenz im Eisladen, und besonders gilt das für die intimen Szenen. Da hatten sie alle Freiheit dieser Welt, sich in dem Set-up zu bewegen, damit das am Ende etwas Lebendiges kriegt. Zugleich hatte ich ein sehr gut geschriebenes Drehbuch von Laila Stieler. Da muss man behutsam sein, um diese wirklich großartigen Dialoge nicht durch Improvisation zu schleifen oder vielleicht sogar zu zerstören. Ich habe also versucht, ein Maß zu finden zwischen jenen Szenen, wo man ganz dicht an der Vorlage des Drehbuchs bleibt, und anderen, wo die eigene Jugendlichkeit, also die der Schauspieler, in die Geschichte einfließen kann.

SSt | In der FAZ hieß es einmal: »Wenn man den Namen Andreas Dresen hört, denkt man an Ostdeutschland, so wie man bei Ken Loach an die Arbeiterklasse denkt. (…) Dresens Filme (sind) die Summe des Ostdeutschen als Stimmung, Haltung und Stoff.« Ist es ein Zufall, dass Sie nach Gundermann, Ihrem vorletzten Film über den »singenden Baggerfahrer«, der auch IM für die Stasi war, erneut eine in der DDR recht prominente Figur auf die Leinwand holen, die im Westen kaum bekannt gewesen ist?

AD | Jedenfalls laufen mir diese Figuren, die so erzählenswert sind, immer wieder über den Weg. Die müssen aber nicht unbedingt nur aus dem Osten kommen. Eine Figur wie Rabiye Kurnaz zum Beispiel, eine Bremer Hausfrau, die loszieht, um ihren Sohn aus Guantanamo zu befreien, kommt aus einem ganz anderen sozialen Gefüge (Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush, D 2022, Anm.). Mich interessieren eben Figuren, die irgendwie versuchen müssen, sich zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie leben, zu positionieren. Dieses Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft finde ich immer wieder ein höchst spannendes und widersprüchliches, weil es sich in Nähe und Distanz ausdrückt. An manchen Stellen geht man mit der Welt, in der man lebt, konform, an manch anderen gerät man in Konflikte. Diese Ambivalenz zu beleuchten, das finde ich aufregend, weil das jeder von uns im eigenen Alltag so empfindet. Wenn man sich noch dazu in zugespitzten historischen Settings bewegt, lässt sich exemplarisch zeigen, welche Tragweite Entscheidungen haben, die man als Individuum trifft: Wenn Hilde sich im Film entschließt, bestimmte Dinge zu tun, hat das natürlich weit drastischere Konsequenzen, als es sie für uns heute hätte. Aber man kann sich vielleicht in sie hineinversetzen und beginnt zu überlegen: Wo wäre ich denn gewesen? Schließlich wissen wir nicht, wohin unsere Gesellschaft treibt.

SSt | In Liebe, Eure Hilde kommt wenige Wochen vor dem 35. Jahrestag des Mauerfalls in die Kinos. Sie selbst demonstrierten in der Wendezeit gegen die Wiedervereinigung, wollten eine reformierte DDR. Wie sehen Sie das heute? Bedauern Sie, dass es nicht gelungen ist, die DDR oder zumindest Aspekte dieses Staates zu retten?

AD | Ich trauere der DDR nicht nach, ich möchte sie nicht wiederhaben. Ich glaube aber, es ist ein Geburtsfehler des wiedervereinigten deutschen Staates, dass die Wiedervereinigung so schnell abgelaufen ist – so schnell, dass sie viele Leute überrannt hat. Und diese Geschwindigkeit hat ein Nachdenken darüber sehr erschwert bis unmöglich gemacht, ob denn nicht ein gesamtdeutsches System anders sein sollte als eine bloße Vergrößerung des westdeutschen Systems. Unter den Ostdeutschen hat das stark am Selbstbewusstsein genagt, weil sie natürlich das Gefühl hatten, all das, was sie aufgebaut haben, war es nicht wert, dass man darüber nachdenken müsste, ob es erhaltenswert sein könnte. Diese Geschwindigkeit, mit der das abgelaufen ist, hatte aber auch mit den Ostdeutschen selbst zu tun: Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte schnell Westgeld haben, sie wollten sich endlich ihre Wünsche erfüllen, wollten reisen, aber sie haben darüber vergessen, den nächsten Schritt einzukalkulieren. Nach der Währungsunion hat es nur wenige Monate gedauert, bis das gesamte ostdeutsche Wirtschaftssystem zusammengebrochen ist. Das hätte man vorhersehen können. So war es dann eben wirklich ein Anschluss oder, um es böse zu sagen, eine feindliche Übernahme.

SSt | Ihr Debüt-Langfilm Stilles Land aus dem Jahr 1992 – an dessen Drehbuch Sie auch schon mit Laila Stieler geschrieben haben – spielt in der Wendezeit: An einem DDR-Provinztheater probt man Warten auf Godot, das Ensemble zerstiebt in den Wirren jener Tage in alle Richtungen. Die Assistentin des Regisseurs kehrt eines Tages mit einem Schauspieler aus dem Westen zurück, der der Truppe verspricht, sie groß rauszubringen. Es sind freilich alles leere Versprechungen. War das eine frühe Ahnung oder wusste man zu diesem Zeitpunkt schon, wohin die Reise gehen wird?

AD | Stilles Land haben wir 1991 gedreht, da brauchte man nicht mehr viel Vorahnung, da lief das alles schon ab. Trotzdem hätte ich mir nicht träumen lassen, wie das alles weitergeht. Man kann aber auch nicht sagen, dass die Wiedervereinigung nur eine einzige Enttäuschung war. Die Frage ist aber, was erträumt man sich denn von einer Gesellschaft? Ich hatte mir immer vorgestellt, dass eine Utopie, ein Wunsch nach einer Gesellschaft, in der man leben möchte, größer sein muss als nur ständig wachsender Wohlstand. Da hatte die DDR, sage ich mal, andere Utopien parat als die, mit denen wir jetzt leben. So haben wir uns halt eingerichtet im Wertesystem der kapitalistischen Ordnung, und das ist natürlich auf Dauer unbefriedigend, wie wir jetzt an allen Ecken und Enden merken.

SSt | In der allerersten Ausgabe unserer Zeitschrift, die vor fünf Jahren, also zum 30. Jahrestag des Beginns der Wende erschienen ist, schrieb unser Autor Karsten Krampitz: »Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wäre es an der Zeit, die Aufarbeitung der DDR-Geschichte aufzuarbeiten.« Er meinte damit, dass man im wiedervereinigten Deutschland ein Bild der DDR kanonisiert habe, das weder dem Land noch den Menschen in ihrer Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit je gerecht geworden sei. Das gilt unvermindert, nicht?

AD | Das gilt auf jeden Fall, finde ich. Und das ist etwas, wo ich immer wieder versuche, vorsichtig daran zu schrauben. Letztendlich ist so ein Film wie Gundermann dem Wunsch geschuldet, eine andere Tonlage anzuschlagen und auf eine andere, möglichst differenzierte Art über den Osten zu erzählen, als es bis zu dem Zeitpunkt häufig geschehen ist, wo man meistens in den Klischeetöpfen gelandet ist. Denn die Klischees machen es eben so einfach, sich über bestimmte Dinge hinwegzusetzen oder die Ostdeutschen in bestimmte Kategorien reinzuschieben. Opfer und Täter wären zum Beispiel solche Kategorien, die gar nicht berücksichtigen, wie viele Grautöne es dazwischen gibt, und auch nicht berücksichtigen, dass eigentlich die meisten Menschen dazwischensitzen. Und an diesem Punkt wird es dann interessant. Deswegen ist eine Figur wie Gundermann auch so spannend in all ihrer Widersprüchlichkeit. Ich glaube also, man kann aus dem Leben, das wir im Osten geführt haben, eine ganze Menge für heute lernen – wahrscheinlich oder bestimmt auch aus den Fehlern, die wir gemacht haben.

Ein seltener Moment der Ruhe in Hildes Gefängnisalltag. (F.: Pandora Film / Frédéric Batie)

SSt | Teil dieses westdeutschen Kanons ist auch ein Erklärungsmuster für die Stärke der AfD im Osten, wo sie zuletzt in Thüringen, Sachsen und in Ihrem Heimatbundesland Brandenburg erschreckend starke Wahlergebnisse eingefahren hat. Wer einmal schon in einem repressiven Regime gelebt habe, sei anfällig dafür, auf das nächste antidemokratische Angebot reinzufallen, heißt es dann oft. Ärgern Sie solche Urteile?

AD | In gewisser Weise schon. Wenn man sich den Bayerischen Landtag anguckt, haben wir neben der AfD, die mit zwölf Prozent drinsitzt, noch die Freien Wähler und die CSU. Mir hat beim Fünf-Seen-Festival in Bayern, wo ich unlängst war, jemand gesagt: »Na ja, der Bayerische Landtag ist eigentlich zu 70 Prozent schwarz.« Daher glaube ich, die erstarkende Rechte nur als ostdeutsches Problem zu sehen ist ein großer Fehler. Es ist eine Tendenz, die wir überall in Deutschland, in Europa und letztendlich weltweit beobachten können, und es ist natürlich eine gefährliche Tendenz. Die hat aber auch damit zu tun, dass das bisher etablierte Parteiensystem – in der BRD war meistens wohlsortiert entweder die SPD oder die CDU an der Macht – ganz offensichtlich keine Antworten mehr auf die Fragen der Gegenwart hat. Und sie hat auch damit zu tun, dass die Gesellschaft in ihren Bedürfnissen insgesamt auseinanderdriftet. Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, die Leute, die im Osten AfD wählen, das sind Frustwähler oder Nazis. Da sind bestimmt auch welche dabei, aber eine ganze Gruppe von Wählern in einer Demokratie zu stigmatisieren halte ich für falsch. Ich glaube, wir müssen auch über die Gesprächs- und Kommunikationskultur nachdenken. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Demokratie als etwas betrachtet wird, wo alle sich mehr oder weniger bei einer Mainstream-Meinung einpendeln. Dass Demokratie aber in ihrem Wesenszug aus der Auseinandersetzung, aus dem Diskurs besteht, dass ein Parlament, was schon im Namen beschrieben ist, ein Ort ist, wo Leute sitzen, miteinander reden oder miteinander streiten, darüber, was die besten Konzepte für eine Gesellschaft sind, das ist etwas in Vergessenheit geraten. Ich denke also, wir sollten wieder lernen, ohne Schaum vorm Mund miteinander zu reden. Das findet leider in Deutschland momentan viel zu selten statt.

SSt | Das erinnert mich an ein Interview, das Sie der Berliner Zeitung vor der diesjährigen Berlinale gegeben haben. Darin sagten Sie: »Wir müssen darauf achten, dass die Räume, in denen wir die Kunst präsentieren, Räume sind, wo Gedankenfreiheit herrscht, wo wir miteinander wirklich kommunizieren können auf eine lebendige Art, ohne Ängste.« Beim Festival selbst bekamen Yuval Abraham und Basel Adra den Preis für den besten Dokumentarfilm für No Other Land. Die Dankesrede, in der Abraham die rechtliche Ungleichheit der beiden Regisseure, die »Apartheid« in Israel thematisierte, löste eine heftige Kontroverse aus: Die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth wurde erst für ihren Applaus bei der Dankesrede medial scharf kritisiert, ruderte zurück, um am Ende zu erklären, ihr Applaus hätte nur Yuval Abraham gegolten, nicht aber seinem palästinensischen Kollegen Basel Adra. Wie haben Sie diese Debatte erlebt?

AD | Ich war bei der Preisverleihung nicht dabei, aber ich fand, dass wir damit in einen Bereich kommen, in dem es wirklich lächerlich wird. Wenn es bei einer Preisverleihung nicht mehr möglich ist, dass Filmemacher das, was sie denken, auf der Bühne äußern dürfen, dann können wir dichtmachen. Und wenn eine Kulturstaatsministerin meint, sie hätte bloß für einen geklatscht, ist das für mich nur noch absurd.

SSt | Sie selbst haben 2022 mit Alexander Kluge, Antje Vollmer, dem mittlerweile verstorbenen Peter Weibel und vielen anderen mehr einen offenen Brief unterschrieben, der in sehr gemessenen Worten vor den Gefahren einer Rüstungsspirale angesichts des Krieges in der Ukraine warnt und Bundeskanzler Olaf Scholz ersucht, von der Lieferung weiterer schwerer Waffen an die Ukraine abzusehen. Auch dieser Brief rief heftige Reaktionen hervor, bei den Regierungsparteien genauso wie in weiten Teilen der deutschen Medienöffentlichkeit. Wie gehen Sie mit derlei Gegenwind um? Denken Sie sich nicht manchmal, ach, ich mach lieber einfach meine Filme?

AD | Es ist sehr anstrengend, und ich finde es frustrierend, diese Diskussionen auszuhalten. Nach diesem Ukraine-Brief, der ja komplett harmlos war, haben wir Morddrohungen gekriegt. Jetzt bin ich nicht so empfindlich, ich möchte aber auch nicht, dass diese Bestandteile des Diskurses plötzlich mein Leben dominieren. Ich möchte nicht ängstlich durch die Welt laufen müssen, deswegen mache ich so etwas auch nicht alle Tage. Zugleich finde ich, dass irgendetwas grundverkehrt läuft, wenn man sich in einer Gesellschaft – gerade bei so grundsätzlichen Themen wie Krieg und Frieden –, anstatt offen miteinander zu reden, gegenseitig bedroht oder übelst attackiert. Deswegen mische ich mich ein. Ich sage die Sachen, die ich denke, aber ich bin ein bisschen vorsichtiger geworden, weil ich auch meine Arbeit gerne machen möchte. Zum Glück habe ich die Möglichkeit, mich durch meine Arbeit so subtil und differenziert zu äußern, wie ich das in keinem offenen Brief je könnte.

Andreas Dresen, Jahrgang 1963, wuchs in der DDR auf. Er ist der Sohn des Theaterregisseurs Adolf Dresen und der Schauspielerin Barbara Bachmann. Auf den Abschluss seines Regiestudiums an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf folgte sein Langfilm-Debüt Stilles Land (1992). Seinen Durchbruch feierte Dresen, der auch am Theater und an der Oper arbeitet, um die Jahrtausendwende mit den Filmen Nachtgestalten (1999) und Halbe Treppe (2002), letzterer wurde u. a. mit dem Silbernen Bären, dem Deutschen Filmpreis und dem Bayrischen Filmpreis ausgezeichnet. Es folgten mehr als zwei Dutzend weitere vielfach prämierte Spiel- und Dokumentarfilme. Sein jüngster Film, In Liebe, Eure Hilde, feierte auf der diesjährigen Berlinale Premiere. Ab 17. Oktober (DE) bzw. 25. Oktober (AT) im Kino.

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