Theorieaffinität

von Iuditha Balint

KRITIK & ZÄRTLICHKEIT #6 | Die Literatur der Arbeitswelt hatte schon immer politischen Charakter.

Glaubt man Oskar Negt und Alexander Kluge, so muss von einer Teilung der Öffentlichkeit in eine proletarische und eine bürgerliche ausgegangen werden. In der Sphäre der proletarischen Öffentlichkeit bewegte sich vornehmlich die Arbeiter:innen-Literatur, die später im Genre der Literatur der Arbeitswelt aufgeht. Aber nur vornehmlich und scheinbar, denn schon die klassischen Arbeiterdichter publizierten nicht selten in renommierten Publikumsverlagen, die eine bürgerliche Leser:innenschaft ansprechen: bei der Deutschen Verlagsanstalt, Phi­lipp Reclam oder Diederichs. In den 1970er-Jahren gab es eine erneute Popularisierung von literarischen Texten und Reportagen in namhaften Verlagen. Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt publizierte seine Taschenbuchreihe über viele Jahre bei S. Fischer.

Dennoch: Der Arbeiter:innen-­Literatur wie auch der Literatur der Arbeitswelt attestierten die Literaturkritik und die Literaturwissenschaft, also der bürgerliche Literaturbetrieb, selten anderes als Reizlosigkeit und ästhetische Dummheit. Dass gerade die politisch organisierte Literatur der Arbeitswelt an Karl Marx, Friedrich Engels oder Erich Auerbach geschult war, zählte wenig oder fiel nicht auf. Nun ist es genau diese Theorieaffinität der Literatur der Arbeitswelt, die in den letzten 25 Jahren so auffällig wichtig geworden ist. Das beginnt mit Rainer Merkels Roman Das Jahr der Wunder (2001) in dem Jeremy Benthams Panoptikon eine genauso entscheidende Rolle zukommt wie den Michel-Foucault- und Gilles-Deleuze-Lektüren. Oder mit Kathrin Rögglas New-Economy-Unternehmensroman Wir schlafen nicht (2004), der die Entgrenzung der Arbeit reflektiert und auch seinen Foucault und Deleuze kennt. Und es geht weiter mit René Polleschs Donna-Haraway-Interpretationen – und zieht sich bis in die Jetztzeit hindurch. So etwa, um einmal über den sprachlichen Tellerrand zu schauen, in Natasha Browns Roman Zusammenkunft (2022, Übersetzung: Jackie Thomae), dem bell hooks, Stuart Hall, Catherine Hall und Susan Sontag alles andere als fremd sind und der Kolonialgeschichte und Erzählungen vom Klassenaufstieg, Race, Class und Gender zusammendenkt.

Eine große Spielwiese, diese Literatur. Für Theorieliebhaber:innen, die detektivisch lesen.

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