Denk ich an Solingen, denk ich an den 29. Mai 1993. Am frühen Morgen dieses Tages setzten vier Neonazis das Haus der Familie Genç im Stadtbezirk Mitte in Brand. Insgesamt fünf Menschen starben, 17 weitere wurden, teils erheblich, verletzt. Unter den Toten befanden sich auch drei Kinder, das jüngste, Saime Genç wurde nur vier Jahre alt.
Der rassistische Anschlag kam nicht aus heiterem Himmel, schon in den Monaten davor war es in Hoyerswerda, Rostock und vielen anderen deutschen Städten zu schweren Pogromen gegen Asylwerber gekommen, am 23. November 1992 fielen einem rechtsextremen Brandanschlag in Mölln schließlich zwei türkischstämmige Mädchen und deren Großmutter zum Opfer.
Die bundesdeutsche Politik hatte auf die zur Gewohnheit gewordenen gewaltsamen Übergriffe gegen Geflüchtete keine Antworten. Zumindest nicht solche, die das unveräußerliche Recht eines jeden Menschen auf ein Leben frei von Angst um die eigene Unversehrtheit garantiert hätten. Ikonisch wurde indes jenes Bild, das die spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im verständnisvollen Austausch mit Neonazis in einem Jugendklub zeigt; und in Erinnerung ist, dass der damalige Kanzler Helmut Kohl (ebenfalls CDU) weder die Trauerfeierlichkeiten in Mölln noch jene in Solingen besuchte. Für »Beileidstourismus« stehe er nicht zur Verfügung, ließ er damals wissen.
Die stetige Verschärfung von Zuwanderungsbestimmungen, die schleichende Aushöhlung des Asylrechts, die bewusst getroffenen Maßnahmen, geflüchtete Menschen immer weniger adäquat zu betreuen und zu alimentieren, sie nahmen stattdessen damals ihren Ausgang. An die Komplizenschaft der Springer-Gazetten, die in jenen Jahren einmal mehr bewiesen, dass sie nicht Teil jener Presse sind, deren Freiheit es wert ist, verteidigt zu werden, sei an dieser Stelle auch erinnert.
Solingen im Sommer 2024: Am Abend des 23. August tötete ein syrischer Asylwerber mit einem Messer drei Menschen auf dem Festival der Vielfalt zum 650-Jahr-Jubiläum der nordrhein-westfälischen Stadt. Acht weitere wurden bei dem Angriff schwer verletzt. Abgesehen davon, dass der Islamische Staat (IS) die Tat für sich reklamierte, gibt es bis heute keine belastbaren Informationen zum Motiv des Täters. Dafür mangelte es nicht an eindeutigen politischen Reaktionen: Die deutsche Bundesregierung, an der immerhin auch SPD und Grüne beteiligt sind, kündigte ein umfangreiches Sicherheitspaket an. Es umfasst Waffenverbote, weitere Verschärfungen im Asylrecht – etwa die Aberkennung des Schutzstatus infolge nicht notwendiger Reisen ins Herkunftsland – und Leistungskürzungen für im Land befindliche Schutzbedürftige. Erstmals seit der erneuten Machtübernahme der Taliban hob am 30. August ein Abschiebeflug nach Afghanistan ab.
An den Grenzen zu seinen EU-Nachbarn lässt Deutschland wiederum lückenlos kontrollieren, Schnellverfahren sollen für »massive Zurückweisungen« sorgen. Die einzige Kraft im Deutschen Bundestag, die an dieser Erosion des rechtsstaatlich-humanitären letzten Rests grundsätzlich etwas auszusetzen hat, ist die versprengte Gruppe dessen, was einst die Partei Die Linke gewesen ist. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist unterdessen ins rechte Lager übergelaufen. Nicht umsonst sprach die Taz zuletzt von einer »Antimigrations-Einheitsfront«.
Anders als Helmut Kohl anno 1993 stattete der aktuelle Kanzler Olaf Scholz (SPD) Solingen drei Tage nach dem Anschlag einen Besuch ab. Mitte September reiste er nach Usbekistan, um ein weiteres »Migrationsabkommen« zu unterzeichnen. Der Inhalt, kurz zusammengefasst: Nachgefragte Arbeitskräfte sollen leichter ins Land kommen, alle anderen möglichst rasch in Richtung Taschkent abgeschoben werden können. Das Abkommen sei »ein kleiner Baustein in einer ganz großen Mauer, die da errichtet wird«, ließ der stolze Kanzler über den Bundespressedienst ausrichten.
Die politische Rechnung für die Übernahme der rechtsextremen Rezeptur durch nahezu alle anderen etablierten Parteien, sie kommt bestimmt. In Österreich hat man sie eben erst serviert gekriegt. Nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und zuletzt in Brandenburg lässt sich mit einer gewissen Sicherheit auch einschätzen, wie sie in Deutschland ausfallen wird, wenn im nächsten Jahr ein neuer Bundestag gewählt wird.
Die autoritäre Wende geht, wie wir in diesen Tagen sehen, ganz ohne AfD. Zumindest so lange, bis niemand mehr an ihr vorbeikommt.
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