Bei der Wahl zum Europäischen Parlament im vergangenen Juni haben rechtsextreme Parteien besser abgeschnitten als je zuvor. Zwei rechtsextreme Bündnisse sind nun die dritt- und viertstärkste Fraktion im Parlament, noch vor der liberalen Fraktion Renew Europe. In Frankreich ging der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen als mit Abstand stärkste Partei aus der Europawahl hervor, was den französischen Präsidenten Emmanuel Macron dazu veranlasste, die Nationalversammlung seines Landes aufzulösen und eine vorgezogene Neuwahl auszurufen. Bei dieser konnte der RN zwar nicht die absolute Mehrheit erringen, wurde aber zum ersten Mal zur größten Einzelpartei in der nationalen Legislative.
Diese jüngsten Wahlerfolge der extremen Rechten in Frankreich – wie auch die in Italien, den Niederlanden, in Österreich und zuletzt in den deutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg – haben nicht wenig Bestürzung ausgelöst. Sie haben viele zentristische Befürworter der Europäischen Union dazu gebracht, etwas in Betracht zu ziehen, das lange Zeit als konzeptionell und praktisch unmöglich galt: die Möglichkeit einer Übernahme der EU durch die extreme Rechte. Aus der Sicht dieser besorgten Gemäßigten stellt der Nationalismus der extremen Rechten eine fundamentale Bedrohung für das europäische Integrationsprojekt dar. Sie sehen in der extremen Rechten eine Art außerirdische Kraft, die von Natur aus im Widerspruch zur EU steht – sie ist »antieuropäisch«.
Dieses Denken beruht jedoch auf einem grundlegenden Missverständnis sowohl der extremen Rechten als auch der EU. In Wirklichkeit sind die extreme Rechte und die EU viel kompatibler, als viele glauben wollen. Der leidenschaftliche »Zivilisationismus« der extremen Rechten, der Europa als weißen, christlichen Block imaginiert, ist seinem Wesen nach nicht gegen das vermeintlich liberale Projekt der europäischen Integration gerichtet, sondern war immer Teil davon. Tatsächlich nähern sich die Visionen der »proeuropäischen« Mitte-rechts-Parteien und der euroskeptischen extremen Rechten an, was man auch daran merkt, wie liberale Politiker wie Macron zunehmend in zivilisatorischen Begriffen über Europa sprechen.
Sollte die extreme Rechte in der EU noch stärker werden, als sie es bereits ist, würde dieser Block daher nicht automatisch auseinanderbrechen, wie viele glauben. Vielmehr würde er wahrscheinlich jenen Weg fortsetzen, den er bereits eingeschlagen hat und den ich als »zivilisatorische Wende« des europäischen Projekts bezeichnet habe. Eine liberale EU, die von einer illiberalen extremen Rechten bedroht wird – diese Sichtweise in Gegensätzen externalisiert das Problem der extremen Rechten und verhindert somit ein klareres Verständnis davon, wie sich die EU in Zukunft entwickeln könnte.
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