Am 24. Dezember 1979 starb Rudi Dutschke durch einen Ertrinkungsunfall nach einem epileptischen Anfall – letztlich aber an den Spätfolgen jenes Schussattentats, das er 1968 nur knapp überlebt hatte. In der heutigen Erinnerung steht Dutschke im Schatten seiner eigenen Ikone als zentrale Führungsfigur der westdeutschen Studentenbewegung. In den Hintergrund tritt dabei, dass Dutschke ein politischer Denker war, der versuchte, eine umfassende Analyse der beiden deutschen Gesellschaften sowie der globalen Verhältnisse mit einer erneuerten revolutionären Perspektive zu verbinden. Dutschke, der selbst in der DDR aufgewachsen war, führte dabei eine beredte Stalinismuskritik mit linkssozialistischen und rätekommunistischen Traditionen zusammen. Diese Mehrfachdissidenz brachte ihn in den 1970er-Jahren auch in Kontakt mit dem Wiener Tagebuch. Anlässlich seiner Beisetzung in Berlin im Januar 1980 druckte das Wiener Tagebuch daher noch einmal eine Diskussion aus dem Jahr 1968 ab, an der unter anderem Ernst Bloch und Ossip Kurt Flechtheim teilgenommen hatten. Im Folgenden finden sich Auszüge aus Dutschkes Statement, die den Umfang seiner politischen Ideen erahnen lassen und zugleich eine Kurzanalyse für die Ursachen von »1968« liefern.
Abschied von Rudi Dutschke
DUTSCHKE: Der Ausgangspunkt der Diskussion für mich muß sein die Zerschlagung der revolutionären Kader in Deutschland seit 1918 – durch Faschismus und Stalinismus. [...] Vier Ebenen ermöglichen meiner Ansicht nach einen neuen Ausgangspunkt: Einmal wurde immer deutlicher, daß das, was als Anspruch von den Politikern nach dem Zweiten Weltkrieg verkündet worden war – sowohl Wiedervereinigung als auch Antifaschismus, als auch Bändigung der Ökonomie, als auch Demokratie –, daß all diese Ansprüche nach 20 Jahren nicht progressiv-demokratisch, sondern restaurativ-autoritär beantwortet waren. Das war die erste Erkenntnis, und zwar innerhalb der Studentenschaft, eines Teils der Studentenschaft. Hinzu kam, daß Vietnam vielen Studenten [...] die Augen geöffnet hat [...]. Die Differenz zwischen Wissenschaft und Humanismus wurde an Vietnam offensichtlich. Eine zweite wichtige Ebene. Eine dritte Ebene war halt das Ende der Rekonstruktionsperiode, also des sogenannten ökonomischen Wunders [...].
Und eine vierte Ebene, um die noch zu nennen: Es kam hinzu, als wir begannen, Demokratisierung der Hochschulen zu fordern, stießen wir auf den administrativen und bürokratischen Druck innerhalb und außerhalb der Universitäten. [...] Das waren meiner Ansicht nach die vier Ebenen, die Ausgangspunkt wurden der anti-autoritären Bewegung. [...]
Eine sozialistische, revolutionäre Alternative zur bestehenden Ordnung ist nur möglich als bewußter Akt der Mehrheit der lohnabhängigen Massen. Nur als solcher ist die Alternative möglich, und auch nur dann wird es möglich sein zu verhindern, daß danach wiederum Unterdrückung von Minderheiten von denen stattfindet, die normalerweise sich zur Mehrheit entfalten könnten. [...]
[...]
Und ein Allerletztes noch: zur Frage des Liberalismus – soviel ist eindeutig auch bei Rosa Luxemburg, und das ist für uns in der Tat noch immer die entscheidende Ausgangsbasis, [...] daß Demokratie und Sozialismus immer noch eine notwendige Einheit bilden. [...] Ob wir nicht viel eher den Begriff der freien Gesellschaft benutzen sollten, um mit der Ambivalenz des Sozialismus auch in diesem Sinne zu brechen, ist eine Frage, ich stelle sie als Frage.
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