Der Agitator trifft auf willige Anhänger: ein Wahlkampfevent von Donald Trump. (F.: AFP/Cyrus)

Was die Rechte stark macht

von Benjamin Opratko

Die extreme Rechte ist weltweit zur führenden politischen Kraft geworden. Ihr Erfolgsmodell: Sie hat die Amoralität des Neoliberalismus verinnerlicht und sich ein Volk nach eigenem Antlitz erschaffen.


2083 wörter
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Im Jahr 2024 knallte es überall. Im September schaffte die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) den endgültigen Durchbruch in Ostdeutschland, wurde mit jeweils über 30 Prozent der Stimmen stärkste Kraft in Thüringen und knapp zweitstärkste in Sachsen und Brandenburg. Kurz danach gewann die FPÖ die österreichische Nationalratswahl, zuvor war Marine Le Pen nur knapp einem De-facto-Allparteienbündnis und den Eigenheiten des französischen Wahlsystems unterlegen. In Italien regiert die Postfaschistin Giorgia Meloni, in den Niederlanden wurde der Wahlsieger Geert Wilders in eine Koalitionsregierung geholt, in Argentinien triumphierte der Kettensägenmann Javier Milei. Und zum Abschluss noch einmal Trump, vier weitere Jahre, wenn der 78-Jährige durchhält. Wenn nicht, übernimmt sein Mini-Me J. D. Vance.

Die äußerste Rechte gewinnt weltweit. Erklärungen dafür bleiben jedoch häufig national oder regional begrenzt. Und tatsächlich gleicht keine erfolgreiche rechte Kampagne der anderen im Detail, gibt es je spezifische Voraussetzungen, die autoritäre Politiker ausnutzen können. Zum Beispiel: Die traumatische Transformationserfahrung in den Ländern der ehemaligen DDR zum einen und aus dem Realsozialismus generationenübergreifend tradierte Politikverständnisse zum anderen machen den deutschen Osten zu besonders günstigem Terrain für die AfD. So argumentiert der deutsche Soziologe Steffen Mau in seinem letzten Buch Ungleich vereint durchaus überzeugend. Oder: In Österreich haben die höchst oberflächliche Entnazifizierung nach 1945, das frühe Mainstreaming der FPÖ in den 1980er-Jahren und die vollständige Übernahme ihrer migrationspolitischen Positionen durch die Kurz-ÖVP ab 2015 dem österreichischen Rechtspopulismus zu struktureller Stärke verholfen. Der Wahlsieg Donald Trumps wird sowieso bis ins letzte Detail des Elektorats nach Geschlecht, Alter, Herkunft aufgedröselt, um nachzuvollziehen, welche soziale Gruppe in den USA wie mobilisiert werden konnte.

Die je konkrete Analyse ist wichtig und notwendig. Sie legt aber auch nahe, dass jedes Land für sich die Bedingungen für rechte Wahlsiege schaffen würde, als wären wir Zeugen einer Serie von je einzeln zu erklärenden – und potenziell einzeln zu begegnenden – rechten Erfolgen. Man kann aber auch versuchen, die Konturen eines politischen Rechtsrutsches zu verstehen, der globale Ausmaße hat. Der Aufstieg der extremen Rechten zur führenden politischen Kraft im kapitalistischen Weltsystem ist eine welthistorische Entwicklung, ähnlich wie in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Welche Erklärungsansätze gibt es dafür? Warum gewinnt die Rechte überall?

Echte Probleme

Die häufigste Erklärung lautet: Weil sie die tatsächlich drängenden Probleme unserer Zeit anspricht. Ihre Lösungen mögen praktisch unbrauchbar oder moralisch untragbar sein, als soziale Seismografen hätten sie ihren Nutzen. Sie zeigten an, wo es im Volk rumort, und zwängen die etablierten Parteien dazu, nicht länger wegzusehen. Was das drängende Problem ist, braucht dann in Europa nicht lange erläutert werden. Parteien wie die AfD, Le Pens Rassemblement National (RN) oder die FPÖ werben seit jeher mit einem Thema: Migration. Die Tatsache, dass Menschen sich »unkontrolliert« bewegen und sich nicht an die vermeintlichen Landessitten anpassen, sei die Ursache aller Übel. Oder wie es der damalige deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) 2018 formulierte: »Die Migration ist die Mutter aller Probleme.«

Dieser Ansatz kommt in zwei Varianten. Eine übernimmt nicht nur die Problemdefinition, sondern auch den Großteil der Lösungsvorschläge von rechts außen. Um den »Populismus« zu schwächen, müssten die Grenzen besser geschützt, die Integration der Fremden staatlich erzwungen und die nicht integrierbaren außer Landes geschafft werden. Diese Variante des Rechtsextremismusverstehens ist in den konservativen Parteien Europas hegemonial und in liberalen und sozialdemokratischen Parteien fest verankert, von Olaf Scholz bis Hans Peter Doskozil. Eine zweite Variante akzeptiert die rechte Problemdefinition, will aber andere Lösungen finden. Die Erfolge der Rechten werden auf reale »Integrationsprobleme« der Fremden zurückgeführt, man will aber auf humanere Mittel zurückgreifen, um sie zu lösen. Diese Vorstellung findet man gehäuft unter Grünen oder in Österreich etwa bei SPÖ-Chef Andreas Babler.

Das Problem mit beiden Varianten ist, dass sie zur Erklärung der rechten Erfolge nichts taugen. Wären real existierende, von Migration verursachte Probleme die Ursache dieser Erfolge, müssten rechtsextreme Parteien dort besonders starken Zuspruch finden, wo der Problemdruck am höchsten ist. Das ist nicht der Fall. Die FPÖ hat bei der letzten Nationalratswahl abermals ihr deutlich schlechtestes Ergebnis in Wien geholt, also in dem Bundesland, wo mit großem Abstand die meisten Menschen mit Migrationsgeschichte leben. Im Wiener Bezirk mit dem höchsten Ausländeranteil, Rudolfsheim-Fünfhaus, blieb die Partei mit 16,6 Prozent sogar hinter den Grünen. Ein ähnliches Muster bilden Wahlergebnisse in Deutschland ab. AfD-Hochburgen sind häufig Wahlkreise mit unterdurchschnittlichem Ausländeranteil. Dort, wo es tatsächlich bisweilen raschelt, in eher armen Stadtteilen mit besonders hohem Ausländeranteil wie Berlin-Neukölln oder im Hamburger Bezirk St. Georg, bleibt die rechtsextreme Partei vergleichsweise schwach.

Das alles heißt nicht, dass Zuwanderung keine sozialen Konflikte verursachen kann. Ob das der Fall ist und wie sie bearbeitet werden, hängt von zahlreichen Faktoren ab, die politisch gestaltet werden können. Bloß haben diese Konflikte kaum etwas damit zu tun, wie erfolgreich rechtsex­treme Parteien aktuell sind. Nichts deutet darauf hin, dass man die Rechte durch irgendwelche migrations- oder integrationspolitischen Maßnahmen schwächen könnte. Das musste auch Kamala Harris feststellen, die im Wahlkampf versucht hatte, sich im Vergleich zu Trump als effektivere Grenzwächterin zu inszenieren. 

Stupid Economy

Die übliche Gegenposition lautet: It’s the economy, stupid! Demnach würden Wähler:innen rechtsextremen Parteien und Politiker:innen zuneigen, weil sie von wirtschaftlichem Abstieg betroffen oder bedroht seien. Die Wahlentscheidung sei dann eine Art Notwehrhandlung gegen die neoliberale Globalisierung, wie etwa der linke demokratische Senator aus Vermont Bernie Sanders nach Trumps Wahlsieg argumentierte. Die jüngste US-Wahl scheint dafür einige Anhaltspunkte zu bieten. Tatsächlich war »die Ökonomie« das meistgenannte Motiv für die Wahl Donald Trumps, die hohe Inflation ein bestimmender Faktor für die Unzufriedenheit mit den Demokraten.

Aber auch diese Erklärung greift zu kurz. In der politikwissenschaftlichen Forschung zum Rechtspopulismus in Europa dominierte lange die These, die ökonomisch »Abgehängten« würden diesen zu Wahlerfolgen tragen – doch ein solcher direkter Zusammenhang konnte nie belegt werden. Auch der Wahlerfolg Donald Trumps kann nicht durch »die Ökonomie« erklärt werden. Erstens konnte er quer durch alle Einkommensschichten dazugewinnen – nur die wohlhabendsten Amerikaner:innen mit jährlichen Einkommen jenseits der 100.000 Dollar neigten deutlich Kamala Harris zu. Zweitens waren wirtschaftspolitische Themen in seinem Wahlkampf nur ein Randthema, es ging viel mehr um Mi­gration und den Kampf gegen »Wokeness«. Und drittens wäre zu klären, welche wirtschaftlichen Maßnahmen sich Trumps Wähler:innen von ihm überhaupt erwarten. Er hat schließlich kein neues Wohlfahrtsprogramm versprochen, sondern will die Axt an das ohnehin karge soziale Sicherungsnetz des Staates ansetzen. Trump und seine superreichen Unterstützer, allen voran Elon Musk, wollen die Entfesselung des freien Marktes im Lande, geschützt vor der globalen Konkurrenz durch Handelszölle.

Auch in Europa positionieren sich rechtsextreme Parteien ausgesprochen kapitalfreundlich. Die letzten Regierungsbeteiligungen der FPÖ liefern dazu reiches Anschauungsmaterial. Es ist gerade das, was linke Köpfe explodieren lässt: Rechte Politiker versprechen, die Kräfte des freien Marktes zu entfesseln – und bekommen dafür just von jenen Menschen Unterstützung, die von entfesselten Märkten am meisten zu befürchten haben. Besonders deutlich wurde das 2024 in Argentinien, wo der Fundi-Kapitalist Javier Milei besonders junge, prekäre Dienstleistungsjobber für sich gewinnen konnte.

Wir haben es also mit paradoxen Sachverhalten zu tun: Parteien, die Migration zum größten Problem erklären, werden massenhaft von Menschen gewählt, die Migration für das größte Problem halten, selbst aber verhältnismäßig wenig mit Migration zu tun haben. Sie verleugnen oder verharmlosen reale Katastrophen – Klimaerhitzung, Pandemien, soziale Vereinzelung – und erfinden inexistente: woke Zensur, Islamisierung des Abendlandes, Zwangsvegetarismus. Sie versprechen Schutz gegen überbordende Gewalt und Kriminalität an Orten, wo Gewaltkriminalität seit Jahren kontinuierlich zurückgeht. Sie verfolgen die Radikalisierung des neoliberalen Programms und gewinnen dafür Menschen, die von diesem Programm existenziell bedroht sind.

Umgekehrte Psychoanalyse

In den 1940er-Jahren untersuchte der deutsch-jüdische Soziologe Leo Löwenthal im US-amerikanischen Exil die Politik faschistischer Agitatoren. Ihn interessierten die sozialpsychologischen Mechanismen dessen, was er die »Bearbeitung des Publikums« nannte: Wie vereinte sich die öffentliche Tätigkeit des Agitators mit dem Ressentiment an der Basis? Löwenthal stellte fest, dass der Agitator Unzufriedenheit artikulierte, ohne Ursachen zu benennen. »In der Tat tritt der Gedanke einer objektiven Ursache gänzlich in den Hintergrund«, schreibt er in Falsche Propheten (1949), »was übrig bleibt, ist einerseits das subjektive Unbehagen und andererseits der persönlich dafür verantwortliche Feind«. Ähnlich wie der manifeste Inhalt in Träumen sei der konkrete Gehalt der Agitation letztlich willkürlich und zufällig: der »hinterhältige Jude«, der »bösartige Ausländer«, der »heimatlose Bolschewik« – die Feindbilder des Agitators erfüllen bloß die Funktion, seine Adressaten von der Aufgabe zu befreien, die eigene Lage begreifen zu müssen. Statt die eigenen Sorgen und Ängste durchzuarbeiten und sich so zu kritischem Denken und aufgeklärtem Handeln zu befähigen, ergeben sich die Anhänger des faschistischen Agitators ihrem eigenen Groll.

»Vierzig Jahre globalisierter Neoliberalismus bedeuteten die systematische Entmachtung der Arbeiterbewegung und ihrer Institutionen, bei gleichzeitiger Ermächtigung der globalen Finanzindustrie in den Status der souveränen Macht über Leben und Tod.«

Löwenthal nannte die Propaganda der extremen Rechten deshalb auch »umgekehrte Psychoanalyse«. Sie verallgemeinert das Gefühl, betrogen und hintergangen zu werden, und präsentiert die Beschwerden ihres Publikums »in einem verzerrenden, fantastischen Prisma«. Der Autor Richard Seymour formuliert in seinem kürzlich erschienenen Buch Disaster Nationalism (Verso Books, 2024) einen ähnlichen Gedanken. Die real existierenden Katastrophen seien Effekte einer tiefen Krise des liberalen Kapitalismus und als solche individuell kaum begreif- oder bewältigbar. Das rechte Projekt greife das umfassende Bedrohungsgefühl auf, das die allermeisten Menschen erfasst, und lenke es auf greifbare Objekte um. Man kann den Klimawandel, Inflation oder Pandemien nicht erschießen. Die extreme Rechte bietet greifbarere Ziele. Doch die »umgekehrte Psychoanalyse« führt nie zur Auflösung der Misere, wie Seymour betont: »Keine noch so große Menge an Gewalt kann die Angst besänftigen, genauso wie das Töten von Spinnen keine Arachnophobie heilen kann, weil die Spinne nicht die eigentliche Quelle der Angst ist. Je mehr der Feind zerschlagen wird, desto weniger scheint es zu lösen, und desto hilfloser ist man angesichts der Angst.«

Gesellschaftliche Malaise

Die Propaganda der Agitatoren trifft auf willige Anhänger dort, wo die sozialen und kulturellen Bedingungen günstig und die gesellschaftlich bedingte generelle Unzufriedenheit hoch sind. Löwenthal nannte diese Bedingungen die »gesellschaftliche Malaise«. Die Malaise unserer Gegenwart reicht viel weiter, als die scheinbar materialistischen Erklärungen es erlauben. Vierzig Jahre globalisierter Neoliberalismus haben nicht nur die ökonomische Ungleichheit in den Gesellschaften erhöht und Wohnkosten explodieren lassen. Sie haben soziale Beziehungen zersetzt, insbesondere Orte, an denen arbeitende Menschen sich über gemeinsame Erfahrungen und Interessen austauschen können. Sie haben ein Menschenbild propagiert, in dem jeder und jede sich selbst am nächsten ist und Wettbewerb ein moralisches Gut an sich darstellt. Sie haben eine globale Elite hervorgebracht, die in ihrem obszönen Reichtum und ihrer Lebensweise von den Realitäten selbst der Mittelklassen unendlich weit entfernt ist – und zugleich genau deswegen als Idealbild für Millionen gilt.

Vierzig Jahre globalisierter Neoliberalismus bedeuteten die systematische Entmachtung der Arbeiterbewegung und ihrer Institutionen, bei gleichzeitiger Ermächtigung der globalen Finanzindustrie, das heißt einer sozialen Praxis, die keinerlei sozialen Nutzen erbringt, in den Status der souveränen Macht über Leben und Tod. Die Voraussetzung dafür, dass dieses System erhalten werden kann, war anhaltendes ökonomisches Wachstum, basierend auf der Ausbeutung fossiler Brennstoffe. Diese Voraussetzungen sind verschwunden. Die etablierten Parteien versprechen, sie zurückzubringen, und glauben sich das Versprechen selbst nicht mehr.

Die extreme Rechte dagegen hat die Amoral des Neoliberalismus verinnerlicht und spiegelt sie dem Volk als Möglichkeit, die Krise zu leben. Sei rücksichtslos! Vergiss die Armen! Iss dein Schnitzel ohne Reue, fahr dein dickes Auto! Nimm dir, was du kriegen kannst! Und wenn noch zehn Ortschaften rund um dich weggeschwemmt werden, heißt das nur, dass die halluzinierten Probleme, die Migranten, Transfrauen und Muslime noch bedrohlicher erscheinen müssen. Warum ist die Rechte so erfolgreich? Weil sie sich ein Volk nach dem eigenen Antlitz erschaffen hat. In einer Ära der realen Katastrophen bleibt die Aufgabe, ein anderes Leben in der gesellschaftlichen Malaise begehrenswert zu machen. Der Horizont dafür ist nicht in Wahlperioden zu messen, sondern in Generationen.

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