Klassenverrat

von Iuditha Balint

KRITIK & ZÄRTLICHKEIT #8 | Zur Konjunktur von Autosoziobiografien.

In seinen Méditations pascaliennes (1997) entwickelt der Soziologe Pierre Bourdieu ein Konzept, das er später in seinen Vorlesungen am renommierten Collège de France weiter ausführt: das des aufgrund der sozialen Herkunft »gespaltenen Habitus« von Klassenübergänger:innen. Es beschreibt, wie Menschen, die ihre soziale Herkunftsklasse verlassen und qua Bildung Zugang zu anderen Klassen finden, sich weder dem Her- noch dem Ankunftsmilieu zugehörig fühlen und verhalten.

Bourdieus Konzept betrifft den Kern eines aktuell weitverbreiteten Genres: der Autosoziobiografie. Beispiele sind Erzähltexte der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux wie Die leeren Schränke, Der Platz, Eine Frau, Die Jahre, die seit den 1970er-Jahren erschienen sind. Oder Didier Eribons Monografie Rückkehr nach Reims (2009), die 2016 ins Deutsche übersetzt und breit rezipiert wurde. Oder Karin Strucks Roman Klassenliebe (1973), mit dem sie einen Bestseller landete, oder Daniela Dröschers Zeige deine Klasse (2018), einer der ersten deutschsprachigen Texte, die in der Tradition von Ernaux und Eribon stehen. In diesen Texten setzen sich die intellektuellen Verfasser:innen mit ihrer Herkunft aus der Arbeiter:innen- oder Mittelklasse auseinander und hinterfragen dabei sowohl ihre eigene Position im sozialen und Schreibgefüge als auch die Grundlagen der Kritik an Eltern und gesellschaftlichen Strukturen. Diese Kritik wird in Besprechungen oft als Verrat gelesen: Die Texte stigmatisierten die Eltern, degradierten sie zu bloßen Repräsentant:innen ihrer Klasse, beraubten sie ihrer eigenen Stimme.

Der Vorwurf des Verrats ist nicht verwunderlich. Schließlich überprüfen die Autor:innen auch selbst, was mit einem gespaltenen Habitus einhergeht: Die Gefahr, jemanden zu verraten, ist aus einer Zwischenposition heraus groß. Verrat an den Eltern und ihrer Klasse begehen die Texte nicht – so mein Einwand. Im Gegenteil: Sie reflektieren die Stigmatisierungen, dass die Eltern von der Gesellschaft als bloße Beispiele behandelt werden, dass ihnen nicht zugehört wird. Was die Texte also machen, ist, Gesellschaftskritik zu üben. Kritik an einer Gesellschaft, die die Arbeiter:innen als bloße Schablone ihrer Klasse sehen will.

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