Der Literaturwissenschafter und Philosoph Joseph Vogl ist einer breiteren Öffentlichkeit als luzider Genealoge des gegenwärtigen Finanzkapitalismus bekannt geworden. In Kapital und Ressentiment (2021) hat er zuletzt die Verwandtschaft von Finanz- und Digitalwirtschaft untersucht und gezeigt, wie deren gemeinsame Logik in der Gestalt von Social Media strukturell populistische Öffentlichkeiten organisiert. Das Ressentiment ist nach Vogl der charakteristische Sozialaffekt solcher algorithmisch geregelten Öffentlichkeiten und »Meinungsmärkte«: Es speist sich aus dem falschen Gefühl des unmittelbaren Kontakts zu exekutiv Entscheidenden, äußert sich in Schuldzuschreibungen und Feindschaftserklärungen, lässt sich wunderbar bewirtschaften und verhärtet Gefühle und Vorstellungen. Vogls neuer Essay Meteor. Versuch über das Schwebende ist eine Auseinandersetzung mit ästhetischen Strategien, den Verfestigungskräften des Ressentiments zu entkommen.
»Sprache des Schwerelosen«
Meteor ist aus der Abschiedsvorlesung hervorgegangen, die Joseph Vogl im Juli 2023 an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat. Der Essay nimmt ein Projekt auf, das sich seit den 1980er-Jahren in der Schwebe einer historischen Möglichkeit befunden hat: eine Vorlesungsreihe, die der italienische Schriftsteller Italo Calvino kurz vor seinem Tod konzipiert, aber nicht mehr gehalten hat. Vor dem Hintergrund politischer Enttäuschungen (beginnend mit dem niedergeschlagenen Ungarischen Volksaufstand von 1956) wollte Calvino darin das eigene Archiv aus Büchern und Erinnerungen auf Momente der Leichtigkeit und auf eine »Sprache des Schwerelosen« hin durchsuchen. Vogls Meteor führt Calvinos Vorhaben nun versuchsweise aus und verbindet damit eine Sprachreflexion und eine Schreibübung: die Annäherung an eine Sprache, die eher, so zitiert Vogl Calvino, »über den Dingen schwebt wie eine Wolke« oder wie »ein Feld von Magnetimpulsen«, als sich an der Bestimmtheit und dem Gewicht von Festkörpern zu orientieren.
Während Vogl mit Calvino den luftigen Raum seines Versuchs über das Schwebende öffnet, ist Robert Musil der immer wieder zitierte Spiritus Rector, der ihm diesen Bereich zu kartieren hilft. Mit Musils nicht abgeschlossenem Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften teilt Vogls Studie auch einen analytischen und ethischen Einsatzpunkt: Musil versuchte mit diesem Roman einerseits, ex post die sozialen und affektiven Fluchtlinien aufzuspüren, die schließlich in den Ersten Weltkrieg geführt hatten. Zugleich war sein Romanprojekt in den 1930er-Jahren ein prognostischer Versuch, die faschistischen Tendenzen seiner eigenen Gegenwart zu erfassen. Vogls Kapital und Ressentiment, erschienen kurz vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hatte mit dem Verdacht geendet, sich in einer Vorkriegszeit zu befinden. Jetzt, da sich dieser Verdacht bestätigt hat, geht es Vogl wie Musil darum, zu einer Methodik, zu Vorstellungen und Begriffen und letztlich zu einem Sinn für unverwirklichte Möglichkeiten zu kommen, die sich dem entziehen, was Musil eine Logik des »Seinesgleichen geschieht« genannt hat: die reflexhafte Verknüpfung von Sachverhaltsbeschreibungen mit Antworten, von Aktionen mit Reaktionen.
Von Musil zu Marx
Vogls Parcours führt über Calvino, Musil und den persischen Gelehrten Avicenna zur antiken Meteorologie bei Aristoteles, Epikur und Lukrez (und – überraschend – zu Karl Marx als deren Leser); er führt über die frühneuzeitliche Wissenschaftsrevolution zur Modernitätsschwelle um 1800, wo sich allmählich eine thermodynamische Physik und damit eine wissenschaftliche Erfassung diffuser Gegenstände ankündigt; und er endet schließlich bei Franz Kafka. Vogl zeigt, welchen Platz schwer zu fassende Phänomene wie Wolken, Dämpfe und Luftströmungen in bestimmten Wissensformationen hatten. Außerdem macht er Momente aus, in denen sich die Wissensproduktion selbst in der Schwebe befindet. So etwa, wenn Galileo Galilei ein neues Gerät namens Teleskop auf den Mond richtet, die Ähnlichkeit von Mond- und Erdoberfläche beobachtet und dabei feststellt, dass sich zwischen den Daten, die ihm sein technisches Gerät liefert, und deren Auswertung ein Raum möglicher anderer Darstellungen des technisch Erfassten öffnet. Ein im Modus von Hypothesen operierendes Denken anderer möglicher Welten beginnt. In literarischen Texten findet Vogl Verfahren, die solchen meteorologischen Phänomenen und Momenten eines Wissens im Werden in ihrer Ereignishaftigkeit gerecht zu werden versuchen. Denn schlicht zu sagen, dass »der Mond über dem Fluß aufging«, reicht nicht hin. Stattdessen muss es, wie in der Sprache, die Jorge Luis Borges erfindet, heißen: »empor (upward) über dauerfließen mondete es«.
Vogls Versuch stellt eine schwebende Konstellation disparater Texte vor, die über Jahrhunderte, über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg im Medium einer gemeinsamen Realitätsempfindung kommunizieren: einer Empfindung, die vor der Sortierung durch Kategorien, vor der schematischen Konkretion angesiedelt ist und die »mit ihrer schwerelosen Unbestimmtheit einen Schatten von Glücksbereitschaft bewahrt«.
Joseph Vogl
Meteor
Versuch über das Schwebende
C. H. Beck, 2025, 144 Seiten
EUR 21,50 (AT), EUR 20,00 (DE)
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