Mitte Mai traf sich die deutsche Linke zum ersten Parteitag nach ihrem unerwartet erfolgreichen Abschneiden bei der Bundestagswahl im März. Die zweitägige Zusammenkunft in Chemnitz verlief weitgehend harmonisch, bloß am Ende des letzten Sitzungstags fuhren die Delegierten der Parteitagsregie in die Parade. Erst erzwangen sie die Abstimmung über einen Antrag, der die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) zur Orientierungsgrundlage für die künftige Beschäftigung mit Antisemitismus erklären sollte, anschließend beschlossen sie ihn auch noch mehrheitlich, wenngleich knapp.
Zur Erinnerung: Die JDA wurde der Öffentlichkeit im März 2021 als Alternative zur Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) vorgestellt. Sie sollte eine klare und kohärente Begriffsbestimmung liefern, die auch missbräuchlichen Antisemitismusvorwürfen einen Riegel vorschiebt. Vor allem aber nahm die JDA eine längst überfällige Differenzierung zwischen Antisemitismus und Antizionismus vor. Wozu die unterschiedslose Gleichsetzung der beiden Begriffe, die in den letzten 25 Jahren zunehmend gängig geworden ist, führt, das ließ sich im Mai letzten Jahres in Wien in Anschau nehmen, als die damalige österreichische Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) dem Philosophen Omri Boehm im Zuge der Debatte um dessen »Rede an Europa« bei den Wiener Festwochen »puren Antizionismus und damit Antisemitismus« vorwarf. Boehms Vergehen: Er vertritt aus einem Kant’schen Universalismus abgeleitet die Idee eines konföderativen gemeinsamen Staats von Juden und Palästinensern.
Boehm steht damit freilich nicht allein, weder heute noch historisch. Daran erinnert auch Lyndsey Stonebridge, mit der sich Robert Rotifer ausführlich über Hannah Arendts Denken unterhalten hat. »Arendt wollte als jüdisches Heimatland einen binationalen Staat, so wie ihn manche Leute in jüngster Zeit gefordert haben. Sie wollte andere Formen einer politischen Gemeinschaft erforschen, die anerkennen, dass die Menschen verschieden sind. Sie war auf diese Weise eine große Föderalistin. Und ich weiß auch nicht ganz, warum das kontrovers sein soll«, so Stonebridge.
Tatsächlich wäre Arendts Haltung heute nicht nur »kontrovers«, sie läge außerhalb dessen, was die »Staatsräson« auf Grundlage der IHRA-Definition für zulässig erachtet. Wenig überraschend hat daher auch der erwähnte Parteitagsbeschluss für heftige Reaktionen gesorgt – vom Präsidenten des Zentralrats der Juden Josef Schuster (»Die Linke zeigt, wo sie steht – und das ist nicht an der Seite der Jüdinnen und Juden in Deutschland«) bis zum Linken-Realo Bodo Ramelow.
Weit weniger erwartbar war indes, dass das Pendel in den Wochen nach dem Parteitag in die andere Richtung ausschlägt: Im Freitag entgegnete zunächst der Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv, Gil Shohat, Schusters Diffamierung, danach drückten 55 Holocaust- und Antisemitismusforscher ihre Unterstützung des JDA-Beschlusses aus, und in der FAZ solidarisierte sich schließlich auch der Völkerrechtler Itamar Mann mit der Linken und forderte: »Deutschland braucht eine neue Antisemitismusdefinition.« Amos Goldberg sprach unterdessen in der Tageszeitung Neues Deutschland Klartext: »Die IHRA-Definition ist Israels diplomatischer ›Iron Dome‹. Israel und seine Unterstützer haben enorme Schwierigkeiten, ihre Politik gegen die Palästinenser zu rechtfertigen. Besatzung, Siedlungsbau, Annexion, Apartheid und ethnische Säuberungen durch Staat, Armee und Siedler, wie sie seit Jahren die Realität in der West Bank prägen, oder die genozidale Tötung von Menschen wie jetzt in Gaza lassen sich durch nichts rechtfertigen. Deshalb versucht man, die Debatte auf die Frage des Antisemitismus umzulenken. Anstatt darüber zu sprechen, was gerade geschieht, diskutieren wir, ob es antisemitisch ist, darüber zu sprechen, was gerade geschieht«, so der israelische Historiker.
Es scheint so, als hätte der von großen Teilen des Linken-Establishments ungeliebte Beschluss von Chemnitz eine längst überfällige Debatte über die Partei hinaus in Gang gesetzt: darüber, wie die IHRA-Definition ein faktenbasiertes Reden über Gaza frei von Ressentiments nahezu verunmöglicht; wie sie zur Legitimation von staatlicher Repression und politischer bzw. militärischer Komplizenschaft an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beiträgt; über die engen Diskursgrenzen, die sie politischen Lösungen für den Konflikt im Nahen Osten setzt – und schließlich auch darüber, wie damit der Kampf gegen den Antisemitismus selbst untergraben wird.
Man wird abwarten müssen, was daraus folgt. Die IHRA-Definition mag für das Staatshandeln in Deutschland und Österreich mittelfristig weiterhin bestimmend sein, ihre unumstrittene gesellschaftliche Definitionsmacht ist allerdings brüchiger geworden. Schon allein dafür ist den Delegierten des Chemnitzer Linken-Parteitags zu danken.
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