Es gab eine Zeit, da nahm man der Europäischen Union ihre Selbstdefinition als Friedensprojekt ab. Ihre Entstehung als wirtschaftspolitische Konstruktion zur Verhinderung europäischer Kriege schien diese Bezeichnung zu legitimieren. Doch ist das nur die halbe Wahrheit.
Bereits die Montanunion von 1951, oft als Gründungsmoment der europäischen Einigung angeführt, folgte der Nato-Gründung auf dem Fuße. Man kann der DDR blockpolitische Voreingenommenheit vorwerfen, doch ihr damaliger Vorwurf, die Kohle- und Stahlgemeinschaft stehe in den Diensten westlicher Aufrüstung, ging nicht ganz an der Wirklichkeit vorbei. Schließlich tobte gerade die Debatte über die westdeutsche Wiederbewaffnung, die 1955 in den Nato-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland mündete.
Das Friedensprojekt war immer innerhalb der Logik des Kalten Krieges zu lesen: als pazifizierende Verflechtung aller Protagonisten der streitlustigen europäischen Pentarchie – freilich mit Ausnahme Russlands. Der Sowjetunion nämlich kam in dieser Geschichte die Funktion des nach innen einenden Feindes zu, der Gefahr, gegen die es sich zu verbünden galt.
Und Österreich? Die Staatsvertragsverhandlungen von 1955 brachten dem Land nicht nur seine volle Souveränität zurück, sondern bescherten ihm auch die immerwährende Neutralität. Bis heute bekennt es sich daher zur militärischen Bündnisfreiheit und zur umfassenden Landesverteidigung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln. Dass ein solches Bemühen allenfalls symbolischen Charakter gehabt hätte, lässt sich den Kriegsplänen von Nato und Warschauer Pakt klar entnehmen. Anders als 1938 gegenüber dem Deutschen Reich wäre Österreich nach 1955 zum militärischen Widerstandsversuch verpflichtet gewesen.
Die Sache war nicht unumstritten. Zurückgreifend auf Vorschläge des Völkerrechtlers Heinrich Lammasch, der sich 1919 ein neutrales Österreich im Völkerbund wünschte, schlugen prominente Sozialdemokraten eine solche Lösung später wieder vor: erst Julius Deutsch im Exil 1944, dann Karl Renner, Bruno Kreisky und Theodor Körner im befreiten Österreich.
Als Österreich und die Sowjetunion die Neutralität 1955 im Moskauer Memorandum vereinbarten, gab es viele Gegenstimmen, und keineswegs nur international. Zu einer Zeit, da die österreichische Identität noch künstlicher Beatmung bedurfte, war auch die Neutralität unpopulär. Doch schon bald begann ein Prozess, als dessen Ergebnis die beiden Begriffe heute für viele untrennbar miteinander verbunden sind.
Denn die Befürchtung, die Neutralität sei ein Einfallstor für die Bolschewisierung Österreichs, wurde bald widerlegt. Wiens Reaktion auf die Ungarn-Krise von 1956 machte die Westorientierung des Landes klar, und in der Folge gestaltete Bruno Kreisky – bereits als Außenminister, aber vor allem als Bundeskanzler – auf ihrer Basis seine aktive Außenpolitik.
Mit der Zeitenwende von 1989 trat diese Erfolgsgeschichte in den Hintergrund. Österreich bewarb sich um die EU-Mitgliedschaft. Pikantes Detail: 1955 hatte als einzige Parlamentspartei der von (Ex-)Nazis gegründete Verband der Unabhängigen gegen die Neutralität gestimmt. 1994 agitierte dessen Nachfolgerin, die FPÖ, mit identitären Argumenten gegen den EU-Beitritt, und mittlerweile hat sich diese Haltung in eine Allianz mit dem Putin-Regime verwandelt, auf deren Basis sich die FPÖ als alleinige Verteidigerin der Neutralität geriert.
Als Österreich 1995 dann tatsächlich der EU beitrat, galten bereits die Maastricht-Kriterien, die sowohl zu gemeinsamer Sicherheitspolitik als auch zu strenger Fiskaldisziplin verpflichteten. Seither wurde so manche sozialstaatliche Errungenschaft der Maastricht-Austerität geopfert. Dass Deutschland nun diese Regel ausgerechnet für enorme Aufrüstungsvorhaben ausgehebelt hat, gefällt auch in Österreich vielen, die bei der Landesverteidigung nicht sparen wollen.
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