»How does it feel to be a problem?« Mit dieser Frage eröffnete der schwarze Soziologe, Aktivist und frühe Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois 1903 seinen Essayband The Souls of Black Folk. Es sei die ungestellte Frage, die sich stets zwischen die rassistisch Diskriminierten und die andere Welt – die Welt der Anderen, die Welt der Weißen – schiebe. Wie fühlt es sich an, wenn die eigene Existenz der Gesellschaft, dem Staat, der Öffentlichkeit als Problem gilt? Wenn das eigene Leben als »Negro Question« verhandelt wird? Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein?
Ende Februar stellte die Menschenrechts-NGO SOS Mitmensch in Wien ihren zweiten jährlichen Bericht über antimuslimischen Rassismus in der Spitzenpolitik vor. Er dokumentiert detailliert, wie österreichische Politiker Musliminnen und Muslime pauschal zu schmarotzenden Minderleistern, gefährlichen Überfremdern, hinterlistigen Täuschern oder rückständigen Zivilisationsfeinden erklären. Die Angriffe kamen von den Spitzen der FPÖ auf Bundes- und Landesebene, aber auch aus der ÖVP. Der Bericht nennt sie antimuslimischen Rassismus und macht es damit richtig, während sonst das R-Wort gemieden wird wie Hustende in Zeiten der Corona-Krise. Es handelt sich dabei nicht um »Fremdenfeindlichkeit«, denn Ziel der Angriffe sind nicht einfach Fremde. Ziel der Angriffe ist es vielmehr, fremd zu machen. Nachbarinnen und Arbeitskollegen, Staatsbürgerinnen und Steuerzahler sollen aus der Volksgemeinschaft verstoßen, ihr Dasein zum Problem erklärt werden. Das ist, was Rassismus immer und überall tat, was er auch heute noch tut. Die Anlässe sind so willkürlich wie zahllos. Zusammenhanglose Themen wie Freiluftgrillen am Donaukanal und Schulschwänzen, Sozialleistungen und leistbare Wohnungen werden in eine »Islamfrage« zusammengezurrt. Zuletzt entblödete sich das Schmierenblatt Österreich nicht, einen Bericht über die Ausbreitung des Corona-Virus mit einem Bild kopftuchtragender Muslima zu illustrieren. Wie fühlt es sich an, in Österreich 2020 Muslim zu sein?
Der Bericht zu antimuslimischem Rassismus wurde von den meisten Medien ignoriert, einige wenige nahmen ihn pflichtschuldig zur Kenntnis und zitierten aus der Presseaussendung. Dass im Beobachtungszeitraum hochrangige Regierungsmitglieder aktiv rassistische Verhetzung betrieben, war ihnen keinen weiteren Kommentar wert. Dafür tobten in den Online-Ausgaben großer Zeitungen die Foren. Nicht aus Empörung über die Hetze, sondern um in den Chor des Fremd-Machens einzustimmen. Auch der liberale Bürger findet zwar allzu drastische FPÖ-Kampagnen gegen »Scharia-Eltern« und »Asylanten-Ströme« unappetitlich, im Kern mag er ihnen aber nicht widersprechen. Besondere Aufregung verursacht, wie üblich, der Begriff Rassismus. Man lasse sich durch die Rassismus-keule die Islamkritik nicht verbieten, Muslime seien ja wirklich ein Problem, und überhaupt: Der Islam ist ja keine Rasse, wie soll es dann antimuslimischen Rassismus überhaupt geben können? Wer auf Hetze und Diskriminierung hinweist, wird unter Verdacht gestellt, das Geschäft der Islamisten zu betreiben, bestenfalls naiv, schlimmstenfalls selbst mit den Muslimbrüdern unter der Decke steckend. Wie fühlt es sich an, als Muslimin das Standard-Forum zu lesen?
Das Insistieren auf den Rassismusbegriff ist nicht bloß semantische Pedanterie. Dass er im deutschsprachigen Raum so verbissen abgewehrt wird, zeigt das Wesen des Rassismus hierzulande. Die Abwehr des Begriffs ist Teil seiner Funktionsweise. In der jüngeren Geschichte wurde er auf zumindest drei verschiedene Weisen verdrängt. Erstens, indem er mit dem Antisemitismus der Nazis und dem industriellen Massenmord am europäischen Judentum gleichgesetzt wurde. Die Shoah wurde so zum unerreichbaren Grenzwert für Rassismus, diesseits davon wirkte alles läppisch, die Verwendung des Begriffes potenziell verharmlosend.
»WIE FÜHLT ES SICH AN, ALS MUSLIMIN DAS STANDARD-FORUM ZU LESEN?«
Das hatte den für die Tätergesellschaften praktischen Effekt, Rassismus in die dunkle Vergangenheit zu verschieben. Wenn aus Rassisten »Ewiggestrige« gemacht werden, erscheint die Gegenwart umso gleißender im Lichte der Läuterung. Eine zweite Variante ist, den Rassismus zwar in der Gegenwart, aber anderswo zu verorten. Dann ist er ein Problem in den USA, vielleicht noch in Großbritannien, wo Kolonial- und Sklavereigeschichte nachwirken. In Deutschland und Österreich wäre man von solchen Zuständen gottlob weit weg. Lässt sich dieses Bild nicht mehr aufrechterhalten, setzt die dritte Verdrängung ein. Rassismus ist dann ein Problem der sozialen und politischen Ränder, von Neonazi-Banden und bildungsfernen Unterschichtlern. So wäscht sich die selbsternannte Mitte rein. Die Erkenntnisse der Rassismusforschung kann sie sich zu ignorieren leisten. Dazu gehören die zwei banalsten: dass Rassismus unsere Gesellschaften von Grund auf strukturiert. Und, dass Rassismen nicht auf die Behauptung von »Menschenrassen« angewiesen sind. Bereits 1988 beschrieb der französische Theoretiker Étienne Balibar einen »Rassismus ohne Rassen«, der nicht mehr die Minderwertigkeit von Untermenschen behauptete, sondern die Inkompatibilität von »Kulturen«. Dieser Mechanismus lässt sich am Umgang mit der »Islamfrage« täglich nachvollziehen. Er ist das unsichtbare Band, das die faschistischen Identitären mit der bürgerlichen Mitte und Teilen der Linken verbindet.
Dass die Hetzer der FPÖ nun keine Ministerämter mehr innehaben, mag dem regierungsseitigen Rassismus die Spitzen nehmen. Verschwunden ist er deshalb aber noch lange nicht. Unter grüner Regierungsbeteiligung sollen staatliche Bekleidungsvorschriften für muslimische Mädchen eingeführt und eine nicht zufällig »Dokumentationsstelle« genannte Spitzelbehörde für den »politischen Islam« geschaffen werden. Das ohnehin diskriminierende Islamgesetz, das Gebote und Verbote vorsieht, die für keine andere anerkannte Religion gelten, soll verschärft, islamischer Religionsunterricht und Kindergärten unter besondere staatliche Beobachtung gestellt werden. Im Koalitionsabkommen zwischen ÖVP und Grünen finden Musliminnen und der Islam nur als Problem Erwähnung.
»Being a problem is a strange experience«, schreibt Du Bois weiter über die »Seelen der Schwarzen«, eine eigenartige und eine entfremdende Erfahrung. Sie führe dazu, dass der Schwarze in Nordamerika ein »doppeltes Bewusstsein« entwickelt, »dieses Gefühl, sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Maßstab einer Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat«. Ähnliches vollzieht sich heute mit Musliminnen und Muslimen. Der antimuslimische Rassismus im 21. Jahrhundert ist nicht nur buchstäblich mörderisch, wie in den Terroranschlägen von Utøya, Chapel Hill, Christchurch oder zuletzt Hanau. Er zerreißt auch unsere Gesellschaften, indem er im Namen der »Integration« manche von uns zu einem Problem erklärt, das die Gesellschaft, der Staat, die Öffentlichkeit zu lösen hätten. Dafür braucht es keine rechtsextremen Terroristen. Dafür reichen ganz gewöhnliche Liberale.
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