Bei der vorliegenden Ausgabe des TAGEBUCH handelt es sich wohl um eine der bislang literarischsten, was sich nicht zuletzt der Dichte an Schriftstellerinnen und Schriftstellern verdankt, die daran mitgewirkt haben. Entstanden sind die Beiträge an Schreibtischen in einer Umgebung, die gemeinhin als sicher gilt – dass nicht überall auf der Welt Journalistinnen unter vergleichbaren Gegebenheiten arbeiten können, muss nicht extra erwähnt werden. Kurz vor Redaktionsschluss wurde ein Gebäude in Gaza, in dem unter anderem Büros der Nachrichtenagentur Associated Press und des Nachrichtensenders Al-Jazeera untergebracht waren, vom israelischen Militär bombardiert – mit der Begründung, es befänden sich im selben Gebäude Einrichtungen der Hamas. Beweise dafür blieb die israelische Regierung vorerst schuldig. Für die Pressefreiheit im Allgemeinen und die Berichterstattung aus der Region im Besonderen ist dieser Angriff in jedem Fall fatal, darüber herrscht ausnahmsweise Einigkeit, auch in Medien, die nicht dazu neigen, Militärschläge gegen palästinensische Zivilistinnen sonderlich empathisch zu kommentieren. Nahezu zeitgleich ließ Sebastian Kurz eine israelische Flagge am Dach des Bundeskanzleramts hissen, eine Querdenker-Demo in Mauthausen wurde zunächst genehmigt und später aufgelöst, nachdem einer der Organisatoren eine Rede von Adolf Hitler abgespielt hatte (der alljährlichen Befreiungsfeier in Mauthausen zwei Tage darauf blieb ausgerechnet die ÖVP-Regierungsmannschaft geschlossen fern). Und in Wien marschierten am selben Wochenende rechtsextreme Corona-Leugnerinnen durch die jüdischen Viertel des 2. Bezirks.

Tatsächlich ist es eine große Herausforderung, im Angesicht der Entwicklungen der letzten Wochen und Monate, Jahre und Jahrzehnte das eigene politische Denken und Handeln verbindlich zu kalibrieren. Für Georg Lukács, dessen Tod sich zum Erscheinungstermin zum fünfzigsten Mal jährt, war der Begriff der Lebensform ein ganz zentraler, und er eignet sich, eben solchen Verbindlichkeiten auf den Grund zu gehen. Patrick Eiden-Offe, der am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung zur Biografie Lukács’ arbeitet, legt in seinem Essay dar, was es damit auf sich hat und welche Implikationen das Konzept der Lebensform für Beziehungen aufweist. Ein leises und trauriges Jubiläum schließt sich an: Seit genau drei Jahren ist das Georg-Lukács-Archiv in Budapest geschlossen, die zugehörige Bibliothek ausgelagert – damit ist nicht nur ein unabdingbarer Standort der Lukács-Forschung verloren gegangen, sondern auch ein zentraler Ort des Gedenkens an jenen Philosophen, dessen geistiges Erbe der Orbán-Regierung (die in der Israel-Palästina-Frage wiederum im Gleichschritt mit Sebastian Kurz trabt) so offenkundig ein Dorn im Auge ist.

In unserer Titelgeschichte setzt sich der Schriftsteller Marko Dinić, der Kindheit und Jugend in Serbien verbracht hat, in vierzehn literarischen Bildern mit den Jugoslawienkriegen auseinander, die vor dreißig Jahren begannen. Reich an Parenthesen schildert er sein Aufwachsen in einer Zeit »zwischen Aufbruch und Einkapselung«. Kaum ein Absatz, in dem nicht mindestens eine Äußerung in Klammern steht – eine Erinnerungsarbeit, die sich selbst ihr eigenes Korrektiv ist und die eigenen Widersprüche und Abschweifungen sichtbar macht. Ein hervorragendes Anschauungsbeispiel für die Lukács’sche These, dass in der Form des Essays Kunst und Philosophie ineinanderfließen.

Außerdem analysiert Sanja Bojanić, Leiterin des Center for Advanced Studies of Southeastern Europe (CAS-SEE) in Rijeka, im Gespräch mit Olja Alvir die momentanen gesellschaftspolitischen Konjunkturen auf dem sogenannten Westbalkan – und diskutiert, weshalb dieser Name für die Region weder ideologiefrei noch semantisch sonderlich stabil ist. Ebenso umstritten ist die exakte Bezeichnung für die Jugoslawienkriege: »Wie heißt dieser, unser Krieg?«, fragt Bojanić.

Schöne Nachrichten können wir schließlich in eigener Sache vermelden: Ab sofort ist Lisa Kreutzer, deren Reportagen zuletzt vor allem in der Zeit und im Falter zu lesen waren, als Redakteurin Teil des TAGEBUCH. Als ständiger freier Mitarbeiter verstärkt indes Karsten Krampitz die Redaktion. Der Schriftsteller und Historiker wird künftig regelmäßig aus Berlin für uns berichten.

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