Wachstumswidersprüche

von Sonja Luksik

Editorial TAGEBUCH 10|2023

Dreißig Menschen sitzen dicht gedrängt in der Wiese, Schattenplätze sind besonders begehrt an diesem heißen letzten Augusttag. Wissenschafterinnen und Aktivisten debattieren lebhaft über die »heilige Kuh« Wirtschaftsstandort und klimaschädliche Industrien, vor allem aber über Alternativen zum Wachstumsfetisch. Nicht mehr das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab des Wohlstands heranziehen und stattdessen den Fokus auf die Produktion notwendiger Dinge, auf Gebrauchswerte legen – wär’ das nicht was? Die 9. Internationale Degrowth-Konferenz fand dieses Jahr in Zagreb statt – wohl kein Zufall, warben die Veranstalterinnen doch damit, dass ehemalige Konferenzredner nun in der links-grünen Regierung der kroatischen Hauptstadt das Sagen haben. »Planet, People, Care: It Spells Degrowth« lautete jedenfalls die unmissverständliche Ansage jener Konferenz.

50 Jahre zuvor legte der Club of Rome mit seinem bahnbrechenden Studienbericht Grenzen des Wachstums eine auf den ersten Blick vorsichtigere Wortwahl an den Tag, doch Analyse und Kritik des endlosen Wachstums und Ressourcenverbrauchs waren ähnlich radikal wie das, was im Sommer 2023 in Museen, Messen, Jugendzentren und auf dazugehörigen Wiesen in Zagreb diskutiert wurde. An Aktualität und Dringlichkeit scheint der 1972 veröffentlichte Bericht kaum etwas eingebüßt zu haben. Das Zusammenspiel von sozialen Bewegungen, kritischer Öffentlichkeit und sich rasant zuspitzenden anthropogenen Verwerfungen macht es möglich, dass die kapitalistische Klimakrise heute endlich die notwendige Aufmerksamkeit erhält – und genügend Stoff für einen Bestseller liefert: Systemsturz, das jüngste Buch des Philosophen Kohei Saito, führte zuletzt mit über einer halben Million verkauften Exemplaren die japanischen Bestsellerlisten an, vor kurzem erschien die deutsche Übersetzung.

Ausgangspunkt des Buches ist die – im Grunde banal anmutende – These, dass der Kapitalismus aufgrund des ihm inhärenten Akkumulationszwangs planetare Grenzen nicht berücksichtigen kann und ein grüner Kapitalismus folgerichtig zum Scheitern verurteilt ist. Erstaunlich ist vielmehr, dass sich Saito, der übrigens auf der diesjährigen Degrowth-Konferenz in Zagreb sprach, in seinen Ausführungen auf (den späten) Marx und auf Degrowth bezieht. Im Gespräch mit Martin Konecny lehnt er eine produktivistische Perspektive ab, der zufolge die Menschheit mit der ständigen Weiterentwicklung der Produktivkräfte immer freier wird. Stattdessen fordert er einen Degrowth-Kommunismus.

Diesem »Kohei-Kommunismus« scheint Raphaela Edelbauer nicht ganz abgeneigt. Die Schriftstellerin, die neuerdings auch als Mitherausgeberin des TAGEBUCH fungiert, räsoniert über das »Greenwashing der Wirtschaft« durch die »innovativsten Köpfe« aus den allerwichtigsten Bereichen der Gesellschaft beim Forum Alpbach – oder bei der UN-Klimakonferenz, die im Dezember in Dubai in eine ähnliche Kerbe schlagen dürfte. Angetan von vier Neuerscheinungen, die sich dem Verhältnis von Technik und postkapitalistischer Gesellschaft – wenn auch mit divergierenden Schwerpunktsetzungen und Herangehensweisen – widmen, zeigt sich wiederum Marlon Lieber. Ganz ohne Marx und Kritik am Produktivismus geht’s bei den publizistischen Auseinandersetzungen mit Technik und Technologien nicht – so seine Conclusio.

Dass es wiederum nicht gänzlich ohne Wachstum geht, das merken dieser Tage viele linke Medien schmerzlich. Die Gründe dafür ähneln einander: geringe Anzeigenerlöse, in schwindelerregende Höhen steigende Papier- und damit Produktionskosten und inflationsbedingte Abo-Kündigungen. Von dieser Entwicklung ist auch das TAGEBUCH betroffen. Um den Betrieb aufrechterhalten zu können, brauchen wir bis Jahresende 300 neue Abonnentinnen und Abonnenten sowie 50 neue Herausgeberinnen und Herausgeber. Wir sind überzeugt, dass wir dieses Ziel in einer gemeinsamen Kraftanstrengung erreichen können. Wie Sie uns jetzt unterstützen können, das erfahren Sie hier.

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