Benjamin Opratko | Mit Kamala Harris als Kandidatin der Demokraten besteht eine realistische Chance, eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump zu verhindern. Ist es das, worum es bei der Wahl am 5. November geht?
Wendy Brown | Ja, es geht vor allem darum, Trump zu verhindern. Wir wissen, wie gefährlich er ist. Nicht nur, weil er als Präsident ungeeignet ist, wegen seiner Unberechenbarkeit und Boshaftigkeit. Und nicht nur wegen des Aufstands am 6. Jänner 2021, als er sich weigerte, das Ergebnis der letzten Wahl zu akzeptieren. Wir wissen auch, dass ihn diesmal nichts mehr zurückhalten würde. Zentrale Institutionen unserer Demokratie wurden seither korrumpiert, der Oberste Gerichtshof steht inzwischen weiter rechts als viele von Trumps Unterstützer:innen. Trump hat nichts zu verlieren und könnte tun, was immer er möchte. Das könnte auf Jahre hinaus dramatische und traumatische Auswirkungen haben. Was er mit Migrant:innen vorhat, ist beängstigend. Dazu kommt die Gefahr, dass er seine Basis weiter aufstachelt. Und ich habe noch nicht einmal mit der Außenpolitik angefangen.
BO | Ist Trump im Jahr 2024 also ein anderer als 2016? Und trifft das auch auf die Republikanische Partei zu?
WB | Trump ist sicherlich unberechenbarer und enthemmter, sowohl aus strukturellen als auch aus persönlichen Gründen. Aber natürlich gehört ihm jetzt auch die Republikanische Partei. Und das würde eine ganz andere Präsidentschaft bedeuten.
BO | Es ist offensichtlich, dass sich die Stimmung bei den Demokraten mit dem Wechsel von Joe Biden zu Kamala Harris verändert hat. Sehen Sie darüber hinaus inhaltliche Unterschiede zwischen den beiden?
WB | Das Problem ist, dass Harris bisher kaum politische Positionen bezogen hat. Es geht in der amerikanischen Politik leider mehr denn je nur um die Stimmung, um die »Vibes«. Die Vibes sind bei Harris besser als bei Biden, bei dem wir wussten, dass wir eine zweite Trump-Präsidentschaft bekommen würden. Nun ist es ist ein sehr, sehr knappes Rennen. Was wir über Harris wissen, ist, dass sie insgesamt näher am Zentrum steht als Biden. Und während sie sich bei Themen wie reproduktiven Rechten und sogar Gaza wohler fühlt als Biden, wissen wir es bei vielen anderen Themen einfach nicht. Wir kennen ihre Pläne für die Wirtschaft nicht, sie hat den Klimawandel bisher nicht erwähnt, und es gibt keine Vorschläge zur Begegnung des ökologischen Notstands, der auch den Verlust der biologischen Vielfalt umfasst. Wir haben also noch keine Harris-Plattform und werden vielleicht auch keine bekommen. Sie könnte bis zum Wahltag nur auf Vibes setzen. Und Trump spielt ihr auch in die Hände. Er wird im Laufe des Wahlkampfs immer unverschämter, und seine Berater sind zunehmend frustriert über sein Verhalten. Er gewinnt keine zusätzliche Unterstützung. Der Grund dafür, dass Harris bessere Chancen hat als Biden, ist einfach, dass jetzt mehr Nichtwähler:innen zu ihr tendieren. Vor allem Frauen.
BO | Was könnte von einer Harris-Präsidentschaft dann überhaupt erwartet werden?
WB | Was sich viele von uns erhoffen, ist die Fortsetzung dessen, was Joe Biden begonnen hat, nämlich die Bekämpfung neoliberaler oder staatsfeindlicher Politik. Biden hat die Idee wiederbelebt, dass der Staat nicht nur für soziale Gerechtigkeit, sondern auch für den Aufbau der Infrastruktur und für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft zuständig ist. Das haben wir seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Da wir derzeit keine substanzielle Alternative zum Kapitalismus haben, müssen wir zumindest regulieren, eindämmen, lenken und planen. Aber Kamala Harris gehört einer Generation an, die viel mehr mit Neoliberalismus vertraut ist als mit der alten New-Deal-Politik, die Joe Bidens eigentliche Prägung war. Ich würde nicht sagen, dass es um das Ende des Neoliberalismus geht, aber die Infragestellung seiner Grundsätze ist allgegenwärtig.
BO | Welche Rolle spielte die sozialistisch orientierte Linke in der Demokratischen Partei in dem Prozess, der Kamala Harris zur Kandidatin gemacht hat? Es war überraschend, dass Personen wie Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders sich praktisch bis zum Schluss öffentlich an die Seite Joe Bidens gestellt haben.
WB | Es ist offensichtlich, dass es einen Deal gab. In den letzten zehn Tagen, in denen er noch im Rennen war, rückte Biden immer weiter nach links: beim Gesundheitswesen, beim Wohnungsbau, beim Klimawandel. Das waren explizite Deals mit den Linken in der Partei. Es war schmerzhaft zu sehen, dass AOC, also Alexandria Ocasio-Cortez, und Bernie Sanders sich auf diese Deals einließen, denn sie mussten ja davon ausgehen, dass Biden die Wahl gewinnt, um seinen Teil erfüllen zu können. Das war offensichtlich eine Fehleinschätzung. Bidens Kampagne war aussichtslos, das war allen anderen klar. Und deshalb haben alle, bis auf ein paar Linke, das Schiff verlassen. Ich denke, AOC hat dadurch etwas an Glaubwürdigkeit verloren. Auch Bernie Sanders hat einiges an Glaubwürdigkeit eingebüßt, vor allem weil er sich erst so spät mit der Palästina-Frage befasst hat. Das ist ein weiteres Thema, bei dem er als Jude der älteren Generation nicht sehen konnte, was die jüngeren sehen, nämlich einen Genozid. Und ich denke, dass diese Enttäuschung über Bernie wirklich stark war. Jetzt ist es besser, er ist in dieser Frage angekommen. Aber es hat sechs Monate gedauert.
BO | Der einzige Protest, den wir beim Parteitag der Demokraten gesehen haben, betraf die Unterstützung Israels durch die Biden-Regierung. Glauben Sie, dass das Thema Gaza den Wahlkampf weiterhin prägen wird?
WB | Das hätte bestimmt zugetroffen, wenn Biden weiterhin der Kandidat gewesen wäre. Er wurde von einem sehr großen Teil der Generation Z und der Millennials als »Genocide Joe« gesehen. Sie hatten geschworen, Biden nicht zu wählen. Kamala Harris positioniert sich mit größerer Sorgfalt zu diesem Thema und fordert einen Waffenstillstand, während sie gleichzeitig das Recht Israels auf Selbstverteidigung beschwört. Aber sie ist in Bezug auf Letzteres nicht so leidenschaftlich wie Biden. Ich denke, das hat die antizionistische und propalästinensische Linke besänftigt. Ich glaube nicht, dass sie ihr in dieser Frage vertrauen, aber die Tatsache, dass sie Israel in diesem Konflikt nicht so offen verteidigt, wird einen Unterschied machen.
BO | Sie haben schon 2010 in Ihrem Buch Walled States, Waning Sovereignty (Dt.: Mauern: Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität, Suhrkamp) fast prophetisch über den Zusammenhang von Neoliberalismus und autoritärer Politik geschrieben – lange bevor Trump erwog, als Präsident der USA zu kandidieren. 2016 schrieben Sie ein neues Vorwort, in dem Sie direkt auf Trump Bezug nehmen. Sie identifizierten eine »Leidenschaft für den Bau von Mauern« in einem breiten politischen Spektrum. Sehen Sie sich heute bestätigt?
WB | Ich habe dieses Buch zu einer Zeit geschrieben, als alle sagten: Hey, wie kommt es, dass wir all diese Mauern haben, wenn wir doch ein globales Dorf sein sollten? Die Berliner Mauer hätte die letzte Mauer der Welt sein sollen, der Neoliberalismus uns alle verbinden und den freien Fluss von Kapital, Arbeit, Ideen und allem anderen ermöglichen sollen. Das Kernargument des Buches, das meiner Meinung nach Bestand hat, ist, dass das Bauen von Mauern in dieser Ära an die Stelle nationaler Grenzen tritt, aber fast immer mehr politisches Theater ist als praktisch wirkungsvoll. Die Mauer, die Trump berühmt gemacht hat, hat nicht viel an der tatsächlichen Migration zwischen Mexiko und den USA geändert. Die wird von anderen Faktoren beeinflusst: von der Nachfrage nach bestimmten Arbeitskräften in den USA, von den Auswirkungen von Kriegen, Verfolgung und Klimawandel, die Menschen nach Norden treiben. Diese Mauer ist also ein großes Stück politisches Theater. Sie steht für eine Nation, die in der Lage ist, sich vor eingebildeten Bedrohungen zu schützen. Wie Trump es ausdrückt: vor Vergewaltigern, Mördern und Drogenhändlern. Aber am Drogenhandel hat sich zahlenmäßig nichts geändert und an der normalen Migration nur sehr wenig. Was tatsächlich passierte, ist, dass die Einreise schwieriger, gefährlicher und stärker kriminalisiert wurde. Das sieht man auch in Europa. Egal, wie viele Mauern gebaut werden, egal, wie sehr die EU als Ganzes oder einzelne Nationen innerhalb der EU versuchen festzulegen, wer einreisen darf und wer nicht – es hält die Boote nicht auf. Es führt höchstens dazu, dass sie im Mittelmeer untergehen. Ich argumentierte damals, dass dieses Theater deshalb stattfindet, um die Souveränität der Nationalstaaten genau zu jenem Zeitpunkt als stark darzustellen, an dem die Souveränität der Nationalstaaten tatsächlich infolge der Globalisierung schwächer wird. Aber ich denke schon, dass sich die Migrationssituation in den letzten 15 Jahren radikal verändert hat. Und sie hat auch einige der Möglichkeiten verändert, wie Mauern funktionieren, um die Migrationsströme umzuleiten und umzulenken. Ich denke auch, dass die Legitimität des Mauerbaus in diesen 15 Jahren enorm zugenommen hat, und zwar im Hinblick auf den Nationalismus, nicht nur den Ethnonationalismus, sondern auch den Nationalismus der Art von Bernie Sanders, als dieser selbst sagte: »Amerikaner zuerst, amerikanische Arbeitsplätze zuerst, amerikanische Produktion zuerst.« Er führte einen Wahlkampf für Arbeiter:innen, der direkt ihren Wunsch ansprach, gewerkschaftlich geschützte Arbeitsplätze in den USA zu behalten. Die Industrie aber zieht auf der Suche nach billigen Arbeitskräften um die Welt. Diese Art von Wirtschaftsnationalismus hat die Bedeutung der Rede von der Souveränität des Nationalstaats verändert, einschließlich sowohl bildlicher als auch tatsächlicher Mauern. Wenn ich das Buch jetzt schreiben würde, müsste ich das ganz deutlich ansprechen.
BO | Für viele Linke gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und dem Aufstieg der Rechten: Der Neoliberalismus schadet den arbeitenden Menschen, diese suchen Schutz und werden in einem Akt der Selbstverteidigung zu Rechts-außen-Wähler:innen. Sie haben in Ihren Büchern einen anderen Zusammenhang skizziert, der den Neoliberalismus nicht nur als Wirtschaftspolitik, sondern als umfassende soziale Logik begreift.
WB | Ich leugne nicht, dass die Rechten die offenkundigen wirtschaftlichen Auswirkungen des Neoliberalismus ausnutzen. Meine Ergänzung ist, dass der Neoliberalismus nicht nur als eine Reihe von Wirtschaftspolitiken funktioniert. Er wirkt auch grundlegend in Form eines Angriffs auf demokratische Prinzipien und demokratische Institutionen. Die ursprünglichen Neoliberalen in den 1920er- und 1930er-Jahren, die neoliberalen Intellektuellen rund um die Mont-Pelerin-Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch die Praktiker der jüngeren Zeit sehen die Demokratie in vielerlei Hinsicht als Problem. Sie meinen erstens, dass der Markt besser funktioniere als alles, was man gesetzlich regeln kann. Und zweitens, dass zu viel Gesetzgebung nicht nur den Markt ersticke, sondern eine Form der Tyrannei über das Individuum, oder, wie Friedrich August von Hayek es ausdrückte, der »Weg zur Knechtschaft« sei. Und diese Diskreditierung der Demokratie selbst war wirklich erfolgreich. Der Aufstieg des Autoritarismus wurde unter anderem dadurch ermöglicht. Es geht nicht nur darum, unzufriedene weiße männliche Arbeiter zu ködern. Es geht auch darum, auf diesem antidemokratischen Ethos und der Aufwertung von Märkten und individueller Freiheit aufzubauen. Wie ich in meinem Buch In the Ruins of Neoliberalism (Dt.: Die schleichende Revolution, Suhrkamp) argumentiere, werten die Neoliberalen auch die traditionelle Moral auf, indem diese als freie, spontane und evolutionäre Entwicklung verstanden wird, im Gegensatz zu allem, was vom Staat kommt. Gesetzgebung für soziale Gerechtigkeit, einschließlich jener für Frauen, LGBTQ-Communitys und ethnische Minderheiten, wird als Sozialtechnik abgewertet. In der neoliberalen Logik ist ein Staat, der für soziale Gerechtigkeit, Umverteilung und robuste Demokratie steht, eher eine Gefahr denn ein Versprechen auf erfüllte politische Freiheit. Und das ist ein idealer Nährboden für die Ausbreitung des Autoritarismus, das ist Teil des Bodens, in dem er Wurzeln geschlagen hat.
BO | Sie haben Trumps Projekt als apokalyptisch bezeichnet. Wie schätzen Sie die Chancen ein, den apokalyptischen Populismus zu verhindern? Und was passiert, sollte es gelingen?
WB | Was ich mit der apokalyptischen Dimension meinte, ist die Bereitschaft, einfach alles niederzubrennen, ohne wirklich an eine Zukunft zu glauben. Trump ist das perfekte Sinnbild dafür. Es gibt wirklich nichts, was er erschaffen will, nur seine eigene Macht zählt, und für diese ist er durchaus bereit, Institutionen und Lebensmodelle von Menschen zu zerstören. Aber auch wenn Trump nicht noch einmal zum Präsidenten gewählt wird, verschwindet das Problem nicht. Eines der ärgerlichen Dinge an der aktuellen Wahlpropaganda ist, dass sie sich nur darauf konzentriert, wer gewinnt. Selbst wenn Kamala Harris einen knappen Sieg davontragen sollte, und selbst wenn es gelingt, demokratische Mehrheiten in der einen oder anderen Parlamentskammer zu erringen, hätten wir es immer noch mit einer neofaschistischen Formation in den USA zu tun. Wir sind also in der gleichen Lage wie ein Großteil Europas. Die Frage ist, wie man damit umgehen soll. Ich denke, erstens muss man sich mit den tatsächlichen Lebensbedingungen einer Klasse befassen, die das Gefühl hat, wirtschaftlich an Boden zu verlieren. Und dabei geht es nicht nur um die Lebensmittelpreise, die Kamala Harris immer wieder anspricht. Es geht um das private Beteiligungskapital, das derzeit den größten Teil des Wohnungsbestands in den USA besitzt, um die Finanzialisierung allgemein, um den Zustand unseres unglaublich kaputten Gesundheitssystems. Es geht also um eine ganze Reihe tiefgreifender struktureller Veränderungen, die vorgenommen werden müssen, um so viele Amerikaner:innen aus der Misere zu befreien. Zweitens geht es um den Rassismus, der von den Rechten mobilisiert wurde, um die Menschen von den wahren Ursachen dieses Abwärtstrends abzulenken. Der Rassismus muss systematisch auf eine Weise auseinandergenommen werden, die die Menschen, die mit diesem Rassismus aufgewachsen sind, nachvollziehen können. Es handelt sich also um ein tiefgreifendes Bildungsprojekt. Und mit Bildung meine ich nicht nur die Schulen. Ich meine, es geht darum, politische Sprachen zu entwickeln, die diese Form der Schuldzuweisung auflösen und stattdessen die Schuld dorthin verlagern, wo sie hingehört: zur Prekarität, zum Mangel an Sicherheit, zum Mangel an wirtschaftlichem Wohlergehen, den so viele Menschen fühlen.
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