So verständlich, ja nachvollziehbar es ist, dass man sich ab und zu mal rekalibrieren und die eigene Arbeitstätigkeit neu eichen muss: Ach, es ist so schade, wenn jemand die Redaktion verlässt! Noch dazu, wenn dieser Jemand ausgerechnet Zeitgeschichte-Redakteur David Mayer ist, der lang daran mitgestaltet hat, was das TAGEBUCH ist, auch und besonders in der so wichtigen Frage, welche Bücher unsere Leser:innen dringend brauchen (oder dringend links liegen lassen sollten).
Dabei bleiben von David beileibe nicht nur die Rezensionen, die er für den Sachbuch-Teil ausgewählt, in Auftrag gegeben, redigiert und manchmal auch geschrieben hat. Es bleiben auch die vielen Interviews, die er gemacht hat, in Ermangelung eines richtigeren Verbs (ihm wird das auffallen und ihm wird ein besseres einfallen): zum Beispiel mit der Arbeitssoziologin Nicole Mayer-Ahuja über den Klassenbegriff oder mit dem Kulturtheoretiker Klaus Theweleit über sein Buch Männerphantasien und die Kontinuitäten männlicher Gewalt, aber auch über Adorno, Jimi Hendrix, Pasolini und Incels. Als unser Haushistoriker betreute David seit 2020 auch die Rubrik »Tagebuch im TAGEBUCH«, die Rückbezug auf die früheren Phasen dieser Zeitschrift nimmt und Texte mitsamt deren Kontexten wieder ans Licht holt, die sich zu gegenwärtigen Ereignissen häufig überraschend verhalten – weil sie die Wirksamkeit historischer Prozesse in die jetzige Zeit hinein sichtbar machen, an Stellen, wo man sie vielleicht nicht vermuten würde. Und in denen Akteur:innen auftauchen, die wiederum bis heute viel gelesen werden und noch mehr gelesen gehören, darunter etwa Eric Hobsbawm, für den das Wiener Tagebuch eine wichtige Adresse für die Publikation seiner Texte war.
Apropos bessere Verben: Mit seinen unerwarteten Wortschätzen, treffsicheren Allegorien und dezentem Witz ist David ungeheuer großzügig, darum kriegt man sie in seinen Texten genauso zu hören wie in jedem Telefonat zwischen Tür und Angel – und die Texte lassen sich zum Glück noch nachlesen, entweder online oder in den vergangenen TAGEBUCH-Ausgaben.
Diese subjektive Auswahl ist also mitnichten als Abschiedsplaylist gedacht, sondern ganz einfach als unsentimentale Leseempfehlung für alle, die das TAGEBUCH noch nicht allzu lang kennen, oder aber schon so lang, dass sie sich die Texte erst wieder ins Gedächtnis rufen müssen. Journalistische Arbeiten, die sich auf aktuelle Ereignisse beziehen, nach Jahren wiederzulesen: Das geht nicht, ohne sie zugleich auch vor der Folie der Gegenwart, zu rezipieren. Vielleicht ist es in etwa das, was mit dem so oft in Zusammenhang mit Fredric Jameson rezitierten »Always historicize!« gemeint ist. Ich weiß es nicht, aber ich bin ja auch keine Historikerin. Vielleicht sollte ich schnell mal bei David anrufen.
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