Kaltes Herz, heißer Kopf

von Erich Hackl

Verschollen, entdeckt, zusammengestückelt: Ernst Fischers packender Roman über Leiden an der Provinz.

Ernst Fischers Romanfragment mit dem zwingenden Titel So kann man nicht leben! ist Mitte bis Ende der 1920er-Jahre entstanden, 1930 und 1931 auszugsweise in der Arbeiter-Zeitung abgedruckt und von deutschen Verlagen der Reihe nach als »zu links«, »zu wenig links« und »zu negativ« abgelehnt worden, ehe es Jahrzehnte später, irrtümlich oder mit Absicht, vom Autor für verloren erklärt wurde. Dem Literaturwissenschafter Jürgen Egyptien ist nicht nur dafür zu danken, dass er die einzelnen Teile in Fischers Nachlass aufgespürt, mühsam transkribiert und in die richtige Reihenfolge gebracht hat; er hat den Roman auch mit einem kundigen Nachwort versehen, an dem einzig die Überschrift »Sex and Crime in Schlammburg« störend wirkt. Denn sie liest sich wie eine vorsichtige, zugleich überhebliche Distanzierung von einem Werk, das weder schwülstig noch zynisch ist, keine Längen aufweist und einen vom ersten Absatz an zu fesseln vermag.

Fischer listet zu Beginn die Abfahrtszeiten der Züge auf, die den Ort des Geschehens, eine österreichische Provinzstadt mit dem sprechenden Namen Schlammburg, mit der großen Welt (Berlin, Paris, London) verbinden. Mit einem dieser Züge, dem »D-Zug Nr. 821«, beendet er den Roman nach 220 Seiten auch – und mit der Handelsangestellten Lili Land, die sich laut Bericht einer Lokalzeitung »in selbstmörderischer Absicht von dem Viadukt bei der Bahnstraße« vor den Zug geworfen hat. In einer kunstvollen Kombination aus auktorialer und personaler Erzählhaltung lässt der Autor diese Meldung in die Lebensbeschreibung einer jungen Frau münden, die mit der »bösen Kraft der Armut« dem Elend ihres Elternhauses entkommen will, ungewollt schwanger wird und den Freitod sucht, weil selbst die bestmögliche Wendung des Schicksals das Scheitern ihres Lebensplans bedeuten würde. Lili ist, neben dem Musiker Dionys Nox, die einzige Person aus proletarischen Verhältnissen in diesem Paar- und Paarungsreigen von jungen Männern und Frauen, denen bei aller individuellen Verschiedenheit gemeinsam ist, dass sie von der Provinz nicht loskommen.

Egyptien weist auf die auto- und familienbiografischen Züge des Fragments hin. Er entschlüsselt auch die Namen etlicher Romanfiguren und stillt damit den Wissensdurst von Historikern nach den Wesenszügen, auch privaten Vorlieben steirischer Politiker und Intellektueller aus der Zeit der Ersten Republik, von denen meist nur schriftliche Zeugnisse ihrer professionellen Tätigkeit auf die Gegenwart gekommen sind. Aber der Gehalt des Romans übersteigt seine zeitgeschichtliche Bedeutung, auch seine literaturhistorische, nebenbei bemerkt, denn aufgrund der Gestaltungskraft des Autors erübrigt sich jeder Versuch, So kann man nicht leben! einer bestimmten Strömung oder Epoche der deutschsprachigen Literatur zuzuordnen. Man liest den Roman seines Stoffs, seines Themas und seiner Komposition wegen, weil er einen von Anfang an packt und bis zum Schluss nicht loslässt, und nicht seiner expressionistischen Elemente willen oder weil man ihn der Neuen Sachlichkeit zuordnen könnte.

Bewundernswert ist die Fähigkeit des Autors, der zur Zeit der Niederschrift noch keine dreißig Jahre alt war, sich in dutzende Personen, die seinen Roman bevölkern, einzufühlen, und sie – Frauen ebenso wie Männer – glaubhaft darzustellen. »Dabei sind«, schreibt Egyptien, »solche inneren Monologe besonders zu erwähnen, in denen er die Widersprüche einer Figur entfaltet und uns an Reflexionen teilhaben lässt, in denen die Figuren sich quasi selber kritisch beobachten und Widersprüche zwischen ihrem Handeln und Denken kommentieren.« Widersprüche auch zwischen Denken und Reden, jeweils aneinander vorbei, und diese Diskrepanz schafft, wie im hochgestochenen Disput der paarungswilligen Bankdirektorsgattin Malaine Grünberger und des ebenso lüsternen Lokaljournalisten Gabriel Rauch, allerlei komische Effekte. So kann man nicht leben! ist jedenfalls der geglückte Versuch, das intellektuelle, lebenssüchtige und lebenskritische Milieu einer jungen Generation von Bürgerkindern zu erkunden, deren Opposition zu den Konventionen ihrer Eltern sich in ständig wechselnden sexuellen Beziehungen zu erschöpfen scheint. Es ist die Erotik, die ihnen – wie Egyptien anmerkt – als »die radikale Negation der gesellschaftlichen Verhältnisse« erscheint.

In einem später entstandenen Aufsatz über das Grauen der Provinz, der sich wie ein kühler und doch von Leidenschaft gespeister Kommentar zum Romanfragment liest, hat Fischer die überhitzte Kleinstadtatmosphäre ein zweites Mal geschildert, wobei es, hier wie dort, für seinen Befund ganz und gar gleichgültig ist, ob mit Schlammburg Graz gemeint war; seine Beschreibung der selbstzufriedenen, schrulligen, einander und sich selbst beobachtenden, von erotischen Fantasien besessenen und vor revolutionären Bestrebungen schaudernden Einwohner hat wenig von ihrer Gültigkeit verloren, da diese Art von Provinz, in der alles tausendmal durchgekaut wird, sich längst globalisiert hat. Aus Schlammburg ist zwar Schlammburg City geworden, aber das jetzige, das einundzwanzigste, ist das »Jahrhundert eines pathologischen Individualismus« geblieben.

Diese Formulierung fällt in einem Gespräch zwischen den Brüdern Vitus und Kurt Schuster – Walter und Ernst Fischer, Egyptien zufolge –, in dem sich ein Ausweg aus der Ära des krankhaften Individualismus abzeichnet, hin zu einem »Leben in dritter Person«. Das ist es, was der Jüngere fordert, nicht nur für das Proletariat zu kämpfen, an dessen Seite, sondern als Proletarier, das heißt »namenlos werden, anonym, untertauchen in der Gemeinschaft der Armut«, während Kurt alle Konventionen, Vorurteile, Vergangenheiten abschütteln, »das eigene Gesetz entdecken und lieber ohne Gesetz als nach fremden Gesetzen funktionieren« will. Kommunismus versus Anarchismus, individueller, der sich vom Augenblick erregen, berauschen, forttragen lässt. Legitim, ja verlockend erscheint den Brüdern das eine wie das andere, und in der »Angst vor seelischer Impotenz, vor dem inneren Leerlauf« unterscheiden sie sich von den meisten anderen Romanfiguren.

In einem weiteren Gespräch, diesmal mit einem Angehörigen der Elterngeneration, dem trinkfesten Baumeister Melchior Feixner, definiert Kurt Schuster die Besonderheit seiner, der neuen Generation und damit auch deren Verhalten, gleichzeitig zu handeln und sich selbst zu beobachten: »Wir sind kalt, sagen Sie, ja, das ist wahr, wir schauen uns selber zu, wir sind neugierig auf das eigene Erlebnis, aber es gibt eine Hitze in uns, die ihr nicht kennt, warmes Herz und kühler Kopf, das war eine Weisheit, unser Herz ist kalt, Baumeister, unser Kopf ist heiß, warten Sie nur noch einige Zeit, wir werden euch zeigen, was wir können, was wir gelernt haben, draußen in den Schützengräben und später, im Wahnsinn der Inflation.«

Ernst Fischers Waffe war sowohl das gesprochene als auch das geschriebene Wort. Er war ein mitreißender Redner, ein einfallsreicher Publizist, ein schwungvoller Übersetzer, und er war ebenso ein wortmächtiger Schriftsteller, das erweist sich nicht zuletzt an diesem nachgelassenen Fragment, das in den hundert Jahren seit seiner Entstehung nichts an Intensität eingebüßt hat. Es enthält Stellen, wie die eingangs erwähnte über die letzten Minuten der Lili Land, in denen der Autor ihr ganzes junges Leben rekapituliert, oder den zähen Willen des Musikers Dionys Nox, die Armut, die ihn als Kind »wie eine Krätze des Herzens« befallen hatte, abzuschütteln und sich selbst und der Welt zu beweisen, »dass Genius stärker als das Leben ist« – Sequenzen, Passagen, die einen lange nicht loslassen. Erstaunlich auch, gerade von Fischer, der sein Leben lang scheinbar mühelos, jedenfalls ungemein rasch und viel geschrieben hat, Gültiges über die Tortur künstlerischen Schaffens zu erfahren, aus der Perspektive eines Malers, der »diese Qual des Nicht-beginnen-und-endlich-fertig-werden-Wollens« erleidet. Täglich »einen Berg von Trägheit durchbrechen«, das geht fast über seine Kräfte. Aber er macht doch weiter, wie die Menschen um ihn und um uns, denn immerhin enthebt die Arbeit sie »der Verpflichtung, leben zu müssen«.

Im Nachwort mutiert Kurt Schuster übrigens einmal zu Karl, dann zu Klaus Schuster. Das ist beinahe so, wie wenn eine übermütige Korrektorin aus Ernst Fischer einen Heinz, dann wieder eine Helene Fischer machen wollte.

Ernst Fischer
So kann man nicht leben!
Romanfragment
Hrsg. und mit einem Nachwort
von Jürgen Egyptien
Clio, 2024, 244 Seiten
EUR 25,00 (AT)
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