Es ist üblich geworden, Jean-Paul Sartre als Wirrkopf und »compagnon de route« des Stalinismus abzutun, und hält es lieber mit Albert Camus, der in seiner libertären Haltung besser in unsere Zeit der Resignation zu passen scheint. Vor fünfzig Jahren war das noch anders, jedenfalls im Wiener Tagebuch, in dem Franz Marek einen grundlegenden Aufsatz über »Sartre und die Politik« veröffentlichte. Anlass war ihm Sartres vielkritisierter Besuch bei Andreas Baader im Hochsicherheitstrakt der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim, in dem die führenden Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) einsaßen. Baader war einer von ihnen, und nicht der hellste. Trotzdem folgte Sartre im Dezember 1974 der Aufforderung, sich mit ihm zu unterhalten, obwohl er die Methoden der RAF nicht billigte.
Marek räumt in seinem Artikel ein, dass »das politische Augenmaß nicht zu den stärksten Seiten Sartres gehört«, meint jedoch, dass den empörten Kritikern »sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit« fehlte, »die Größe eines Moralisten zu verstehen, der sich keinem Appell verschließt, gegen Unrecht zu protestieren, gleichgültig, wo es begangen wird«.
Erstaunlich, wie präzise Marek auf drei Druckseiten sowohl die intellektuelle Biografie als auch die politische Entwicklung des Philosophen und Schriftstellers darzustellen vermag: mit Sympathie für Sartre, aber ohne dessen Widersprüche, im Denken wie im Handeln, zu verschweigen.
Franz Marek
Sartre und die Politik
1968 bedeutete für die politische Entwicklung Sartres wohl die wichtigste Zäsur. Die Intervention in Prag veranlaßte ihn zum endgültigen Bruch mit dem »Sozialismus, der aus der Kälte kam«. Andererseits fand er im Mai bei den rebellierenden Studenten Kontakt mit Massen, deren Disziplin er sich unterwarf, weil er sich grundsätzlich ihren Auffassungen anschloß: Die institutionellen Organisationen haben versagt, die Kommunistische Partei ist keine Partei der Revolution, die Revolution braucht einen Intellektuellen neuen Typs, der seine Hauptaufgabe nicht darin sieht, Bücher zu schreiben, sondern sich den Arbeitern zur Beseitigung der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur zur Verfügung zu stellen. In einer Massenversammlung von Studenten wird ihm das Wort erteilt und gleichzeitig ein Zettel zugeschoben: Sartre, sei kurz. Als er zu sprechen anfängt, unterbrechen ihn arabische Studenten mit den Zwischenrufen »Palästina wird siegen!«. Sartre hatte nach dem Oktoberkrieg eine Sondernummer von »Temps modernes« mit Artikeln arabischer und israelischer Autoren veröffentlicht und sich sowohl zur Existenz Israels als auch zu den legitimen Rechten der Palästinenser bekannt. Sartre spricht kurz und denkt: Ein neuer Typ von Intellektuellen ist notwendig, der mit den Massen verschmilzt und nicht Aktionen für andere vorschlägt. Ich bin dazu nicht mehr imstande. Wie kann ich zu Demonstrationen aufrufen, wo ich doch physisch nicht mehr imstande bin, bis zum Ziel zu marschieren. So kämpfen zwei Intellektuelle in mir, der eine geht mit diesen Rebellen, der andere denkt an die große Arbeit über Flaubert. Und den jungen Freunden, die ihm vorwerfen, daß diese Arbeit über Flaubert doch breite Massen nicht interessiere, gibt er die Antwort, es soll eben einmal eine Gesellschaft geben, in der auch solche Werke von den Massen gelesen werden.
So wird der Sartre, in dem zwei Intellektuelle kämpfen, eine tragische, eine rührende, manchmal aber auch eine komische Figur. Er verbindet sich mit den »Maos«, französischen Maoisten, die man allerdings nicht mit den »marxistisch-leninistischen« Gruppierungen identifizieren kann. Sie bekennen sich zu den Grundsätzen der chinesischen Kulturrevolution, kritisieren aber ausdrücklich viele Aspekte der chinesischen Außenpolitik und haben auch die Raubersgeschichte über Lin Piao niemals geschluckt. Vor allem aber lehnen sie das Leninsche Konzept von der Partei in allen Varianten ab. Sie werden nun Sartres engste Weggefährten.
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